Montag, 31. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1194

Zuerst einmal die "Gedichte des Tages" von übermorgen. Da ist nichts Spektakuläres in Sicht. Etwas zum 100. Jahrestag des Titanic-Untergangs ( "14.4.1912" ), dann der Blick nach 2008 ( erwartung  ) und


Du sinkst immer tiefer
mit immer höheren Zielen
wachsen dir die Dinge
über denen du stehst
immer weiter
über den Kopf
niemand bleibt dir
nur das Gefühl
sie werden dich brauchen
als sprühst du vor Leben
das längst nicht mehr
nur in dir steckt
niemand antwortet
auf immer mehr Fragen
mehr und mehr
glaubst du zu wissen
warum es keiner je
verstehen wird
wie bitter die Tränen
bis du ganz alleine
im Dunkel bist
so dankbar
für diese eine Flamme
die unaufhörlich brennt
für diese Worte
die wie Artefakte
schon in aller Munde waren
bevor nur du sie entdecktest
so liegst du am Boden
mit dieser unglaublichen Kraft
den entferntesten Träumen
was du nie zu denken wagtest
es ist zum Greifen nahe
Dann weißt du es einfach
es ist ein Muskel
der dich halb Tod selbst
einfach weiter
immer weiter
deinen Weg gehen lässt
bis an sein Ende
hörst du ihn schlagen
die ganze Welt
kann es hören
so lange er nur lebt
wird er kommen
um sie zu retten


Dann geht es um die erste utopische Erzählung, die noch keine Veröffentlichung in "Mein außerirdischer Liebhaber" hinter sich hat. Bei dieser Geschichte gibt es einen einfachen Grund: Sie ist noch im frühen Entwurfsstadium. Aber man lese selbst. Im Augenblick wäre es die Titelgeschichte für eine eigene Sammlung:

Im Heute das Morgen

Als sie in den Hörsaal gedrängt wurde, kam ihr, zum wievielten Mal schon, der Gedanke, ihre Haare zu färben. Es war doch die natürlichste Sache der Welt. Rötliche Haare zu haben hob sie aus der Masse heraus. Wenn sie das gewollt hätte. Aber wollte sie das? Die Jungs behandelten sie wie eine besondere Beute. Eine Aufwertung für den, der sie zuerst in die Kiste bekommt. Mehr schien sie ihnen nicht zu sein. Ein Glück, dass Myra sie gewarnt hatte! So war sie der Blamage mit Tommy entgangen. Die Kerle waren eben doof. Sie begriffen nicht, was sie an ihr gehabt hätten. Warum hatte sie eigentlich nicht gefragt, was Tommy als Wettschuld aufzubringen hatte?
Jenny musste aufpassen, um nicht abgedrängt zu werden. Nein. Myra hielt zwei Plätze frei. Ganz oben. Für Peggy und sie. Obwohl … Mit Myra konnte jede Veranstaltung gegen den Baum gehen. Die fand immer etwas dazwischenzureden. Das lenkte ab. Aber die Semesterarbeit musste wenigstens ein „befriedigend“ bringen. Dann bekam sie die Anwesenheit für das Semester „Praktische psychologische Probleme extraterrestrischer Lebensentwicklung“ bescheinigt. Mehr wollte sie nicht. Um im kommenden Jahr an einem College zu studieren brauchte sie neben dem Notendurchschnitt, der kein Problem für sie war, den Beweis für das Interesse an 50 Nebenfächern. Das war viel. Eigentlich zu viel. Und extraterrestrische Lebensentwicklung interessierte sie nicht wirklich. Aber viele der Mitschüler fanden es schick. Da hatte sie die größte Chance, nachher noch ein paar Gedankengänge mit anderen zu vergleichen. Und diese Lesung war auf jeden Fall etwas Außergewöhnliches. Da ließ sich ein Dozent der Akademie zweimal im Jahr für die Schüler ihrer Kleinstadt dazu herab, vier Stunden Vortrag zu halten. Weil er selbst einmal hier geboren und obwohl er tatsächlich schon im All gewesen war. Na, vielleicht hoffte er, so schneller einen eigenen Lehrstuhl zu bekommen.
Die Plätze waren echt gut. Jenny versuchte, dieses unsinnige Gefühl wegzudrücken, gleich ginge eine Prüfung los. So also sah ein echter altehrwürdiger Hörsaal aus. Kein Computerkabinett mit Simultanarbeitsplätzen, sondern ein riesiger Raum mit Bänken, die aufsteigend angeordnet waren. Von den schätzungsweise 400 Plätzen waren inzwischen etwa 300 belegt und noch immer spuckten die beiden Doppeltüren schubsende Schüler in den Saal. Eigentlich war das eine ideale Gelegenheit. Wann konnte man sonst schon die Jungen beobachten, ohne dass die sich benahmen, als müssten sie was vorspielen? Eben ohne auf den Kontakterfolg mit ihr fixiert wie an den Monitoren. Nicht so unmittelbar vor dem Satz HAST DU ABER SCHÖNE BLAUE AUGEN! Wäre Tommy nicht gewesen, Jenny hätte es für ein gelungenes Kompliment gehalten, sich zumindest darüber gefreut. Diese Augen war neben jenen RÖTLICHEN Haaren das auffälligste Erbstück von ihrer Mutter und die war auch jetzt noch eine aufregende Frau. Was andere Mädchen mit extra eingesetzten Haftschalen zu imitieren versuchten, war bei Jenny Natur: Ihre Iris gab im Normalfall einen ungewöhnlich breiten Kreis blau leuchtenden Himmels preis. Aber wahrscheinlich hielten es eben alle für künstlich.
Noch drei Minuten. Jener legendäre George Buckinns hatten seinen Platz eingenommen. Offensichtlich nervös spielte er am Beamer herum. Wunderbar: Der würde also Zusammenfassung und Struktur des Vortrags an die Wand werfen. Jenny brauchte nur Fotos zu machen und sich ein paar spezielle Ausdrücke des Dozenten zu notieren.
Eigentlich war der Typ … Jenny hätte nicht sagen können, was sie von dem Mann halten sollte. Für einen, der schon eine Interstellarreise und erste Jahre an der Raumakademie hinter sich hatte, sah er extrem jung aus. Anfang 40 vielleicht. Jünger als Dad. Das war wahrscheinlich den Kälteschlafphasen geschuldet, die er durchlaufen hatte. Er hatte seinen Flug zu einer Zeit angetreten, als die Astronauten zum ersten Mal ihre Schlafsärge im Wechsel selbst einstellen durften. Sieben Frauen, sieben Männer. 

Sonntag, 30. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1193

Ein Freund geht nicht einmal mehr ans Telefon. Nie mehr wird er das. Da entstand eines der "Gedichte des Tages" von übermorgen:


Folge mir
in ein Land, hinter dem Meer, das glänzt,
jenseits der Welt, die wir gekannt,
wartet die Welt, die wir erträumt,
samt der Freude, die wir probten.

Folge mir 
entlang der Straße, die nur Liebe sieht,
die erst entsteht in tiefer Nacht
im Lichte jenseits der Tränen
nach den vergeudeten Jahren.

Folge mir 
in ein fernes Land wie Berge hoch,
wo die Musik in uns den Himmel füllt
 in Stille singen reinen Herzens
nur diese Welt dreht sich weiter.

Nimm meine Hand
Und wir finden das Land
Über die glänzende Meer
Folge mir


Die weiteren Gedichte sind  Sebastian Deya mit "Lasst die Erde endlich beben" ... Kämpferisch, wenn auch lang und


(349) warum


Dazu folgt der Schluss der Erzählung "Abea":


Sie hörte die anderen denken, lass den Quatsch, was soll das! Aber keiner sagte etwas. Sie konnte sich losreißen, rannte, rannte, rannte.
Zu Hause redete gerade die Mutter von Samantha auf Abeas Pflegeeltern ein, ohne das Kind in der Tür zu bemerken: „… Wir haben dreißig Rollen bekommen. Wir dachten, am Wochenende tapezieren wir zusammen. Rosa Wölkchen. Sind die nicht niedlich?“
Wortlos verzog sich Abea auf ihr Zimmer.
„In der Schule häufen sich in letzter Zeit die Fälle von … Also, wenn es nicht so verrückt klänge, dann würde ich sagen Strahlenkrankheit. Genau genommen betrifft das die ganze Klasse Ihrer Tochter bis auf … na, eben bis auf Ihre Tochter selbst.“
„Das kann ja wohl nicht wahr sein.“
Samantha hatte sich erhoben.
Mrs. Widerman war ebenfalls aufgestanden.
„Ich glaube es natürlich auch nicht. Aber an mich ist von mehreren Eltern die Bitte herangetragen worden, mit Ihnen zu sprechen. Sie mögen Ihr Kind aus unserer Schule nehmen. Wie gesagt, das …“
„Ich versteh schon! Auf Wiedersehen!“
Samantha stürmte wutentbrannt heim. Kurz vor ihrem Haus traf sie ein Stein in der Nierengegend.
Stumm horchte Abea an Samanthas Bauch, dort wo jetzt nichts mehr zu hören war. Sie spürte die Hand der weinenden Mutter auf ihrem Kopf, aber sie hörte auch deren Gedanken.
Wenn du nicht wärst, dann wäre bald mein eigenes Kind da.
Leise war hinter ihnen die Tür aufgegangen. Müde warf Sam seine Tasche in eine Ecke, so dass sich „seine beiden Frauen“ erwartungsvoll zu ihm umdrehen.
„Abeas Werte sind jetzt okay. Burkland konnte nicht die geringste Radioaktivität mehr in ihren Zellen feststellen.“
Das Mädchen sprang auf, lief die Treppe hinauf, schloss sich in ihr Zimmer ein, warf sich aufs Bett und prügelte mit der Stirn auf das unschuldige Kopfkissen ein.
Oh, könnte sie doch endlich die fremden Gedanken von sich fern halten. Nein sie war kein Monster! Nicht einmal „Unser Monster“, wie in Mums Gedanken! Nein, das schon gar nicht.
Am nächsten Morgen stiegen nur noch vereinzelt Qualmwölkchen aus dem niedergebrannten Haus der Mc Faddens. Samuel Mc Fadden hielt seine zitternde Frau in den Armen. „Nicht auch noch Abea, nicht auch noch Abea!“
Wieder ist eine Stunde um.
Auf dem Schreibtisch liegt eine verschmierte Notiz. „Von einem etwa zehnjährigen Mädchen, welches ein Armeeangehöriger namens Mc Fadden oder wie auch immer angeblich aus dem Krieg mitgebracht haben will, ist im Stab nichts bekannt.“ Mir ist so egal, ob Sam sich Abea ausgedacht hat, um sich vielleicht für ein Kind zu entschuldigen, das dank seines Einsatzes gestorben ist, er bei mir nur Bestätigung sucht, dass er nicht anders hätte handeln können, oder was auch immer. Ich habe mein Geld damit verdient zuzuhören. Ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich verabschiede den halb mumifiziert wirkenden Mann mit einem Händedruck. Die letzten Worte seiner Geschichte klingen in mir nach: „Für einen Moment, einen winzigen, aber eben einen vorhandenen Moment, ging mir durch den Kopf. Ach wäre sie doch damals schon mit verbrannt …“

Samstag, 29. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1192

"Die Zeit wird alles richten (8)", heißt übermorgen ein "Gedicht des Tages",  einmal angenommen das zweite und dies ist das dritte:


Gut getarnt
verkünden sie dich


bis auf´s Blut


uniformiert in Tugenden
bewaffnenden Wissens
gedienst du angesichts
entwaffnet
dem
zum
Zweck
geopferten Ziel


Warum
bist du auch wirklich
so unglaublich
schwierig

Es folgt die aktuelle Fortsetzungsgeschichte Slov ant Gali "Abea" (4)

Aus der kleinen Schule von Louisville hatten sieben Jungen ihr geregeltes Einkommen in der Armee gefunden. Sie alle überstanden das Abenteuer Krieg lebend. Doch nur wenige Wochen, nachdem sie wieder im heimatlichen Stützpunkt zurück waren, sahen die Jungs fast täglich ausgemergelter aus. Mit Beginn von Abeas nächstem Schuljahr war von allen nur noch Sam am Leben. Im Drugstore hatte Samantha den Eindruck, als brächen alle Gespräche ab, kaum, dass sie zur Tür herein kam.
„Sam, ich habe den Eindruck, die warten richtig darauf, dass du endlich stirbst.“
„Aber Samantha! Glaub mir, da können sie lange warten.“
Trotzdem karrte er seine Familie zu Burklands Spezialklinik.
Der Chefarzt begrüßte sie zum Auswertungsgespräch mit einem entspannten Lächeln.
„Sie sind so gesund wie eh und je. Und was ihre Abea angeht: Es hat sich nichts verändert. Alle Werte wie damals. Was soll ich sagen? Die Katastrophe kann unmittelbar vor der Tür stehen, aber inzwischen hätte ich genau wie Sie Hoffnungen auf ein glückliches Ende.“
Sie wollten schon aufstehen, da lächelte der alte Arzt richtig spitzbübisch.
„Ach ja, Mister Mc Fadden, apropos Hoffnungen. Ihre Frau meinte, aus meinem Mund glauben Sie es am ehesten: Rechnen Sie mit dem ersten eigenen gemeinsamen Nachwuchs. Für Sie wird scheinbar alles Unmögliche möglich.“
Sam und Samantha bemerkten in ihrem erwartungsvollen Glück die Angst in Abeas Augen nicht.
Auf das Schwesterchen freute sie sich. Die Mum war ganz anders, wenn sie, Abea, an ihrem Bauch horchen wollte, was denn das Kleine darin so empfinde. Stundenlang hörte Samantha dem Mädchen zu, wenn es so lustig die angeblich gerade erlauschten Gedanken des künftigen Schwesterchens nacherzählte.
Nein. Das war es nicht.
Aber die Klasse hatte sich verändert.
Abea war Hobbes lange aus dem Weg gegangen. Das, was sie an Gedanken aus seinem Kopf hörte, quälte sie. Was konnte sie denn dafür, dass sein Vater von dort unten die tödliche Krankheit, ihr Dad dagegen sie mitgebracht hatte?
Dann merkte sie, dass sie immer mehr Mitschüler mieden. Wie eine Fahne zog sie den Titel „Schwarze Hexe“ hinter sich her. In ihrer Gegenwart sprach ihn niemand aus, aber das war vielleicht noch schlimmer: Es aus den zurückgebliebenen Gedanken der anderen lesen zu müssen, wie sie in ihrer Abwesenheit über sie hergezogen waren.
Hobbes war größer, älter und kräftiger als die anderen. Auf dem Heimweg von der Chorstunde, die jetzt auch keine richtige Freude für Abea mehr war, stand er plötzlich mit fünf anderen Jungs vor ihr. „Na, Cleopatra, bist du eigentlich beschnitten? Ihr Araberweiber sollt ja so scharf sein, dass ihr es anders nicht aushalten könnt. Na, ich beschneide dich gern. Wo auch immer.“

Freitag, 28. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1191

In den Gedichten des Tages von übermorgen gibt es ein Hauptmotiv: Die Zeit.



Manchmal
besteht mir
die Woche
allein aus Montagen.
Wem ich zu begegnen
suche,
der scheint in mir geraubte
Sonntage entflohen.
Er läuft
durch mich hindurch,
ängstlich bemüht,
nicht an meine Teilchen
zu stoßen.
Ich habe ihn wohl
nicht berührt
oder zu sehr.
Warum geht
die Woche nicht weiter
und ich stehe
dem nächsten Montag
mit einem Sonntag im Rücken
gegenüber?
Geduld,
antwortet die Zeit
und wendet sich ab.


Auch Sebastian Deya nutzt das Stichwort: " Im Zeichen der Zeit"
Ansonsten gibt es den Blick in die Zeit von vor drei Jahren:  würg

Und die Prosa für heute?
Slov ant Gali "Abea" (3)



Das hatte ihr Sam erklärt, den sie jetzt Dad nennen sollte. So tat sie es auch, als sie allein mit der Lehrerin vor der Klasse stand. Trotzdem lachten die meisten. Vielleicht hatte sie die Laute nicht richtig betont.
Mrs. Widerman winkte. Daran erkannte Abea, dass vorn dort war, wo die anderen Kinder hinsahen, wenn sie sich nicht gerade feixend wie jetzt zu ihr umdrehten.
Mrs. Widerman fragte so boshaft, als wäre völlig klar, dass Abea nicht wissen konnte, wie viel zwei plus drei sei. Aber sie dachte dabei fünf, so dass Abea laut „Fünf!“ sagte, und auch, als die Aufgaben schwieriger wurden, dachte die Lehrerin immer an die Lösung, die Abea nur laut nachsagen brauchte.
Viel hatte Abea nicht verstanden, aber weil alle ihre Antworten richtig gewesen waren, galt sie von nun an als Rechenass. Rechnen war auch leichter als die fremde Sprache, von der man so viele Worte mit so vielen Bedeutungen behalten musste, und David, der immer am lautesten dachte, formulierte so viele falsche Sätze.
Abea lernte schnell.
Trotzdem war sie traurig. Mathew hatte immer solche Angst vor dem Unterrichtsschluss. Sie fragte ihn, warum er nicht mit den anderen loslaufe.
„Lass mich in Ruhe“, antwortete er abweisend. Aber da kamen schon Hobbes und dessen Gang und schlugen auf den kleinen schwarzen Jungen ein. Überrascht und hilflos stand Abea daneben.
In der nächsten Pause jedoch stellte sie sich vor Hobbes hin.
„Warum lässt du Mathew nicht in Ruhe?“
Die anderen aus der Klasse bildeten einen Kreis um sie. Hobbes grinste. Sein Gedanke kam genauso schnell oder langsam wie seine Worte: „Weils einfach Spaß macht. Aber wir können ja auch dich nehmen.“
Fast alle lachten.
Nur Benny stand in der Ecke und dachte, Mädchen schlägt man nicht. Er fürchtete sich, das laut zu sagen. So war Abea am Schluss der letzten Stunde auf ihn zugegangen, hatte ihn an der Hand genommen und war mit ihm schweigend durch die Gasse der verwirrten restlichen Jungen geschritten.
„Schwarze Hexe!“, rief Hobbes. Aber Abea hätte nicht sagen können, ob das abschätzig oder zumindest etwas anerkennend gemeint war.
Längst wusste ich nicht mehr, wer ich und wer Sam war, und wer … Nein, natürlich wusste ich um Abea. Aber in meinem Gehirn verschwamm Sams Erzählung mit Bildern, die sie heraufbeschworen, zu einem neuen Film. Anfangs hatte ich mich noch gefragt, wieso er von Erlebnissen Abeas erzählen konnte, bei denen er nicht dabei gewesen war. Irgendwann bildete ich mir aber selbst ein, manche Szene mit den Augen jenes Mädchens zu erleben. Da wusste ich schon nicht mehr, ob ich nicht selbst die Geschichte neu erzählte. Ich fertigte keine Protokolle mehr an, ich beschwor genau wie Sam das Mädchen Abea als Geist herauf, und sie erschien mir, weil ich – wie Sam – nicht sein wollte, wie ich in Wirklichkeit war.


Donnerstag, 27. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1190

 Ein eigenwilliger Künstler voll Liebe und Menschlichkeit hat aufgehört Neues zu schaffen. Alois Hallner. Ein Freund. Ein Platz in meinem Leben wird verwaist bleiben. Ein Platz im Friedrichshainer Autorenkreis wird nur noch virtuell besetzt bleiben. Aber das, das wird er ... Vor fast vier Jahren ging es ihm zum ersten Mal so schlecht, dass Gevatter Tod sich Hoffnungen machte. Damals schrieb ich das folgende Gedicht:



Ich wünsch mir keinen Freund.
Die Welt dreht sich,
ohne,
allein
um mich.

Ich wünsch mir keinen Freund.
Wer mir sagt,
ohne,
ich hätte alles gut gemacht,
lädt mich ein,
ihm glatt zu glauben.
Ich lebte unbedarft eitel.

Ich wünsch mir keinen Freund.
Niemandem bliebe ich,
ohne,
greisenalt, Kind,
meine Fehler,
behielte ich
für mich.

Ich wünsch mir keinen Freund.
Alles andere
kann man
ersetzen.


Bei mir nicht. Aber hier geht es ja um die "Gedichte des Tages" von übermorgen. Da bleibt nur noch eines übrig:

(346) schlangenabgesang



Ist es richtig, unter solchem Vorzeichen weiterzumachen, als wäre nichts? Im Sinne von Alois sage ich Ja. Also Fortsetzung Prosa:


Slov ant Gali "Abea" (2)



Hinter ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum stank es fürchterlich und niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können.

Plötzlich stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch, aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden Riesenaugen.
Du wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine Angst vor dir. Ich habe dich lieb.
Abea wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das bedeutete. ES wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm die Worte von IHM und ergänzte ihren Namen.
Abea zögerte. Sie wollte zurückfragen, aber ES würde sie ja nicht verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen schwarzen Himmel.
„Ich kann Ihnen das nicht erklären. Glauben Sie mir. Ich würde gern, aber ich kann es mir selbst nicht erklären. Die meisten Zellen ihrer Abea sind radioaktiv aufgeladen. Aber sie strahlen nicht nach außen. Und das Seltsamste: Ich kann bisher keinerlei krankhafte Veränderungen feststellen.“
„Bitte, Herr Doktor, reden Sie Klartext! Wie lange hat sie noch zu leben?“
„Das kann ich einfach nicht sagen. Der Strahlenbelastung nach wäre sie längst tot, von der Wahrscheinlichkeit her muss die Strahlenkrankheit bald bei ihr ausbrechen. Spätestens dann bleibt Ihnen nichts mehr zu tun, als der Kleinen die Leiden zu mildern.“
„Sie finden unsere Idee also verrückt?“
Der alte, bedächtig sprechende Chefarzt der Spezialklinik vermied es, Samantha und Samuel Mc Fadden in die Augen zu sehen.
„Bitte fragen Sie mich nicht! Ich an Ihrer Stelle würde mir das alles noch einmal gründlich überlegen.“
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Für einen winzigen Moment stand Abea abwartend da, die Klinke in der Hand, die dunklen Augen funkelten Sam an. Dann flog sie ihm entgegen, als hätte sie einen kräftigen Tritt bekommen. Sie landete auf seinem Schoß, und ihre Arme zogen Samanthas Kopf zu sich heran, drückten ihn und krabbelten mit den Fingern durch die blonden Haare, als suchten sie darin wenn schon nicht Läuse so doch wenigstens Wüstensandkörner.
„So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, entschied Sam, wobei er abwechselnd zu Abea und dem Arzt blickte.
Und das Kind warf dem Mann in dem Kittel einen trotzigen Blick zu. „So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, wiederholte es störrisch.
Auf der Straße in die Kleinstadt, dort, wo man mehr als fünf Achtel des Himmels über sich sah, schwieg Sam vor sich hin. Seine freie Hand lag in der linken Samanthas.
Es war schon ein seltsames Gefühl. Zur Schule gehen. Mit Kindern, die hier groß geworden waren, alle Wörter kannten, die fremden Dinge, die sie bezeichnen sollten, ja, die sogar genauso aßen wie ihre Nachbarn.
„Sag, ich heiße Abea!“


Mittwoch, 26. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1189

Eigentlich wäre es angebracht, dem Journal ein "journalistischeres" optisches Gerüst zu geben. Also einen Rahmen für die Lyrik, die Prosa und was denn eigentlich "Wortkultur" sein soll.

Denn im Moment bleibt es erst einmal dabei, dass Lyrik hier bedeutet, einen Blick auf die für übermorgen geplanten "Gedichte des Tages" zu werfen - eines als Beispielgedicht, zwei als Link. Diesmal sind das:


Im Trend sucht man den eigenen Stil
der, entgegen dem Trend, ihm zum Opfer fiel
modebewusst, aufgestylt und frisiert
wirkt, eben im Trend, oft so etwas kleinkariert

Wer kann dort alles und weiß oft Nichts
ging eigene Wege, Menschenmengen angesichts
dessen Freiheit, die jeder so gerne hätte
hängt oft nur am seidenen Faden, als Marionette

Wer erkennt von Morgen Glückes Kind
wo Reichtum reich macht, modisch Moden sind
die  ihre Auftritte im Rampenlicht hatten
genauer betrachtet sooft erleuchtet vom Schatten


Dazu kommt  "Die Zeit wird alles richten (5)"

und

 schlangenabgesang



Die Prosa spielt mit den kurzen Erzählungen in Fortsetzungen. Hier erlaube ich mir einfach, noch einmal an meine liebsten aus dem SF-Band "Mein außerirdischer Liebhaber" zu erinnern, die hoffentlich in einer persönlichen neuen Sammlung ("Im Heute das Morgen") dabei sein werden - allerdings dann noch einmal überarbeitet. Zuerst

Slov ant Gali "Abea" (1)

Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von Vorteil. In diesem Fall aber …. Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht.
Ich leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hat. Ich ahne, was wirklich war, aber sträube mich, wie er, gegen die Wahrheit.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie übertrugen die Erfahrungen ihrer langjährigen überlegenen Demokratie auf das Land dieses Diktators. Klar, wurde auf sie geschossen, mussten sie für Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, die mit Splittern und mit Strahlen alle potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig machten. Dann entstanden schon einmal Berge von Menschenteilen, die sie nicht liegen lassen konnten. Schließlich waren sie hier, um Ordnung zu bringen. Und er war dran, im Schutzanzug die Terroristen zu einem Haufen zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.
Da entdeckte er sie.
Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften kein Zucken zurücklassen. Doch ihre Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkel wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterbury? War er das Gespenst, das gerettet werden musste?
Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog es aus dem Körperberg hervor. Es war verschwitzt. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandigen schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Leben war nur noch in seinen Augen.
Für einen Moment wollte er das Kind zu dem restlichen Haufen stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen.
Was für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“
Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – wie sollte dieses Mädchen deine Sprache verstehen?
Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“
Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.
Sie war über eine Schwelle getreten.
...

Dienstag, 25. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1188

Übermorgen sind die "Gedichte des Tages"  "Die Zeit wird alles richten(4)".und

 bankmonolog 

sowie


Vermessen, verhoben und viel zu neurotisch
nur high, verloren und eh bloß besessen
verzweifelt, verloren, dabei noch exotisch
nur einsam, traurig und eh bald vergessen
Abgefuckt, abgehoben und selbst bloß betrogen
bedeutungslos und zu sich nicht ganz ehrlich
abgedreht, abgeschoben, auf sich bloß bezogen
so ahnungslos und dazu noch selbstherrlich
Ach Mensch, wie soll ich´s richtig nur machen
„einfach alles glauben, dumm! Ganz ehrlich!“
über Dummen, glaubst du, kann man nur lachen
Zweifel an dir machen dumm und gefährlich
Mensch, du willst verpflichtend Geschichte erkennen
warnst vor reißendem Fluss und bösen Quellen
Mensch, willst als historisch bedingt es dann nennen
dagegen selber zu türmen reißende Wellen
So dürft´ ihr den Tollen weiter gerne lächerlich machen
doch bittersüß schmeckt er nach, der reine Wein
vom bitterstem Ernst zeugt oft das gezwungene Lachen
was den Kater spart. Bitte schenkt mir weiter ein.


Und nun die Prosa. Da sind wir allerdings am Ende der Erzählung angekommen:

"Welcher nun bin ich?" Teil 5


Ich könnte zum Beispiel dich verschwinden
Eine lange Rede. Und sie ist nur der Anfang. Wir haben noch extrem viel zu bereden. Ich bin etwas sauer, dass nun ein Anderer die Temper-Kapsel getestet hat. Lydia ist offenbar nicht mehr so sprunghaft wie damals, so hübsch übrigens auch nicht. Zu dem Buchhalter-Ich passt sie entschieden besser als zu mir. Dafür hat sie sich den Luxus dreier altbiologisch gezeugter Kinder geleistet, wovon Susanne mit ihren 22 Jahren das beeindruckendste ist – kein Wunder: da bin ja ich der Vater. Okay. Er auch.
Wir kommen, wie man so schön sagt, vom Hundertsten ins Tausendste. Mein Buchhalter-Ich beruhigt mich. Man sei gewöhnt, dass er mitunter bis in die Nacht hinein arbeite, und … da zwinkert er verschwörerisch … das habe auch Gründe. Eines seiner Regale entpuppt sich als Hausbar. Bei einem wirklich guten Tropfen räumt er ein, dass ihm manchmal sein geregeltes, langweiliges Leben zum Halse heraushänge. Wie er mich beneide, was ich in der Zwischenzeit alles erlebt habe. Das wäre mir mit Lydia an der Backe – er sagt wortwörtlich „an der Backe“! - nicht gelungen. Manchmal wünsche er sich, noch einmal von vorn anfangen zu können.
Na, ist das kein Stichwort für einen wie mich?
Gut, wir sind beide vom Zustand der Nüchternheit schon ein gutes Stück entfernt. Trotzdem ist das, was ich ihm erkläre und was wir zu inzwischen nachtschlafener Zeit sofort umsetzen, keine reine Schnapsidee.
Er geht vor in den Kapselraum. Zuvor sichert er ab, dass der Wachhabende in der Zentrale in seligen Schlaf versinkt. Die Kameras zeichen alles auf. Aber wer sollte schon direkt reagieren? Bis zur Ablösung wäre es zu spät. Dann wiederhole ich die Abläufe um den Kapselstart, wie ich sie nach Jannas Einschlafen durchgespielt hatte. Diesmal allerdings mit zwei Kapselinsassen und ohne Rückholautomatik. Noch mehr Variationen unseres Ichs müssen nun wirklich nicht sein.
Als mir schmelzend heiß wird, habe ich eines dieser Zeitüberlagerungsgefühle. Ich feixe wahnsinnig bei der Vorstellung, dass mein fülligeres Ich sich gerade ausgelassen fühlt. Schon wird uns wieder kühler.
Um uns der Keller unserer schicksalsträchtigen Mensa. Wir schmunzeln uns an. Welch Vergnügen. Beinahe wie in einem Déjà-vu sehen wir, wie unser Jugend-Ich uns entgegenkommt und an uns vorbeistürmt. Wir sind brav zur Seite getreten. Dann schreiten wir nebeneinander durch die Tür direkt auf Lydias Tisch zu. Wir fragen nicht, ob frei ist. Wir setzen uns einfach. Sonnen uns in der Verwirrung unserer Jugendliebe. In Lydias Gesicht sieht man die Gedanken arbeiten. Wir warten. Wir haben doch alle Zeit der Welt. Und Hoffnungen haben wir, Hoffnungen … Zum Beispiel, dass wir uns die Freuden und Pflichten der Vaterschaft fair teilen können, jeder so etwa ein Drittel, vielleicht der junge Spund etwas mehr, weil der noch durch muss und mein Buchhalter-Ich etwas weniger, weil der ja alles schon einmal hinter sich hat. Vor allem aber hoffen wir, gemeinsam die ganze Temper-Kapsel-Sache verhindern zu können. Unser jugendliches Ich wird hoffentlich einsehen, dass es genügend andere Abenteuer zu bestehen gibt. Er wird doch nicht ernsthaft wollen, dass in einer der vielen parallelen Welten noch mehr wie wir herumlaufen.
Da! Die Tür geht auf. Unser jugendliches Ich sieht sofort zum Tisch unserer Geliebten. Er hat uns entdeckt. Er wundert sich. Man sieht´s. Ob er sich erkannt hat? Wir werden ihm das schon erklären …    

a
a
a
a
a
a

Montag, 24. Oktober 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1187



Lade mich
wenn du
dich einsam fühlst
und dein Herz
in Fetzen hängt
wie Krähenkadaver
auf einer Wäscheleine


installiere mich
in deiner Seele


trage mich
jeden Tag
in deiner Handtasche
lausche dem Piepsen
aus der Dunkelheit


ich bin ewig für dich da
oder
bis zu dem Tag
wo du
meiner überdrüssig wirst
und mich löschst.  

Liebeslyrik heute? Zumindest übermorgen eines der "Gedichte des Tages". Ihm stehen zwei von mir zur Seite

"Die Zeit wird alles richten (3)".
 und

 geschwistergeflüster


Dann geht es utopisch prosaisch zu.  "Welcher nun bin ich?" Teil 4.

Auf die Uhr schaue ich dann so oft, dass ich zum Schluss nicht mehr weiß, wie lange ich eigentlich warten musste. Eigentlich bin ich doch wieder in meiner Zeit zurück. Da kann es doch keine Temporalorientierungsstörungen mehr geben?!
Dann wird die Tür geräuschlos geöffnet. Mich starren zwei weitere unbekannte Uniformierte ähnlich verwirrt an wie ich sie. „Ne, nich?! Also das glaubt uns keiner“, höre ich den einen sagen. „Du, also bevor wir wieder zum Gespött der anderen werden, bringen wir den erst einmal zum Blix. Soll der entscheiden.“ Ich werde von den beiden in die Mitte genommen und durch mehrere Korridore geführt. Ich bin hin- und hergerissen. Einmal versuche ich zu fragen, was denn eigentlich los sei, dann erhasche ich Details des Gebäudes, Türschilder und Ähnliches, die belegen, dass ich nicht dort bin, wo ich hergekommen war. Aber das war schlicht unmöglich. So blöd konnte ich nicht gewesen sein, den Temper nicht exakt auf Rücktransport zu gleichen Raumzeitkoordinaten einzustellen. Andererseits … Da ist doch unser Zeitlaborkomplex. Das sind unsere Gänge. Es sind nur Kleinigkeiten anders, die verwirren. Farben zum Beispiel. Und eben Namensschilder.
Namensschilder. Genau. Ich stehe plötzlich vor einer Tür mit meinem Namensschild. Wenn ich nicht wüsste, dass wir gerade den Buchhaltungsflügel erreicht haben … und die Tür mir als jene des Hauptbuchhalters bekannt gewesen wäre …
Also wenn ich nicht gleich aus diesem Albtraum aufwache, dann spiele ich Junge mit Trotzanfall. Aber ich wache nicht auf. Sehr unsanft werde ich in den Raum geschoben.
… und stehe mir selbst gegenüber. Steven Blix in voller Größe. Nein, dieser Typ da bringt vielleicht 15 Kilo Lebendgewicht mehr auf die Waage. Und die sind weniger vorteilhaft verteilt. Der da dürfte am Kletterseil hängen wie ein Mehlsack.
Immerhin erfreulich, dass er mir Gelegenheit lässt, ihn zu mustern. Mir dämmert erst langsam, dass er mich mit derselben Verwunderung betrachtet. Wenigstens hat er die Wachleute weggeschickt mit dem eigentlich voreiligen Spruch „Ich klär das selbst!“
Schließlich fehlt ihm der Schlüssel zur Lösung. Allzu lange brauche ich nämlich nicht, da ist mir alles klar. Und weil ich eigentlich ein netter Mensch bin, halte ich ihm einfach einen Vortrag:
„Du fragst dich sicher, wer ich bin? Du könntest es mit einer DNS-Probe probieren. Dann würdest du erklärt bekommen, dass ich du bin, meinetwegen du ich, wenn dir das lieber ist. Ich bin in die Vergangenheit gereist, um Lydia von der Teilnahme an jenem Katastrophenflug abzuhalten. Also bin ich kurz in die Rolle meines damaligen Ichs geschlüpft. Ich hatte unterstellt, auf der Rückreise wieder ich zu sein. Aber mein damaliges Ich hat sich ja anders entwickelt. Das wurde also zu dir. Wie es scheint, hat sich noch Anderes anders entwickelt. Die Wirklichkeit, aus der ich gekommen bin, gibt es nicht mehr. In der Wirklichkeit, in der ich gelandet bin, gibt es mich schon einmal. Okay, … Etwas verstehe ich doch nicht: Als ich die Rückholautomatik eingestellt habe, war das in meiner Welt, für meine Kapsel. In der Wirklichkeit hat mich aber eure geholt. Oder seh ich da was falsch? Vielleicht … Ne, dass wir uns hier gegenüber sitzen, ist schon Problem genug. Vor allem: Das müssen wir wirklich lösen.  

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