Freitag, 2. Januar 2015




Die Sache mit der Perspektive: Verdrehtes


Gunda Jaron

Hotline

Alfmann Computer-Reparaturdienst, Service und Support, guten Abend, mein Name ist Fröhlein, was kann ich für Sie tun?“
Kristina würgte einen Rest Käsebrötchen hinunter. Da hing sie nun seit einer gefühlten Stunde in der Warteschleife und hatte sich schon darauf eingestellt, mit der Melodie von „I am sailing“ im Ohr den Rest des Tages zu verbringen, als Rod Stewart unvermittelt von Frau Fröhlein unterbrochen wurde, die ihren Spruch hervorsprudelte, als täte sie nichts lieber, als dem Anrufer zu Diensten zu sein.
Guten Abend, meine PC-Tastatur hat ...“
Einen Moment bitte, ich verbinde weiter ...“
I am sailing ...
Eigentlich logisch, dass der Tag so aufhören würde, wie er angefangen hatte.
Semmel?!“
Ach“, antwortete Kristina, das ist ja sehr nett von Ihnen, aber eigentlich habe ich gerade gegessen und meine Tastatur ...“
Mein Name ist Semmel“, betonte der Mann am anderen Ende der Leitung leicht indigniert. „Was kann ich denn für Sie und Ihre Tastatur tun?“
Nun ja, es ist mir ein bisschen peinlich, aber ... Wissen Sie, heute war wieder one of these days!“
Heute war was?“, fragte Herr Semmel entgeistert.
Na, one of these days eben. Sie wissen schon, einer dieser Tage, an denen man morgens die Augen aufschlägt und sofort weiß: Dieser Tag wird ein guter. ER – WIRD – MEIN – TAG, verstehen Sie?“ Sie konnte förmlich hören, wie Herr Semmel am anderen Ende der Leitung zu lächeln begann.
Ja, solche Tage kenne ich“, bestätigte er. „Was hat das ...“
Nun“, fuhr Kristina unbeirrt fort, „dann wissen Sie ja auch, dass man keine halbe Stunde später solche so hoffnungsvoll begonnenen Tage in einen Sack stopfen und für die Müllabfuhr an den Straßenrand stellen möchte, nicht wahr? Blöderweise ist aber dann immer gerade Mittwoch – und der Müll wird montags abgeholt ...“
Herr Semmel schluckte stumm.
Und was tun solche Tage dann?“, wollte Kristina wissen, ohne eine Antwort auf ihre Frage abzuwarten. Herr Semmel hatte sich auch gar nicht erst die Mühe gemacht, den Mund zu öffnen. „Ich sag's Ihnen: Sie hämmern so lange mit ihren fiesen kleinen, spitzen Sekunden und Minuten auf Ihren Nerven herum, bis sie es geschafft haben, Ihnen auch noch den Rest der Woche zu versauen. Fluchtversuch zwecklos. Und weil wir das wissen, seufzen wir nur abgrundtief und verlassen uns darauf, dass auch auf diesen Morgen irgendwann ein Abend folgen wird, nicht wahr?“
Ja, sicher“, warf Herr Semmel schnell in die zwangsweise entstandene Pause – irgendwann musste schließlich auch Kristina einmal Luft holen – ein. „Aber was ...“
Kristina war nicht zu stoppen:
Sie haben es erraten: So ein Tag war heute. Es begann mit meiner Lieblingskonfitüre. Oder besser: Es begann eben nicht damit, weil der Blick ins Marmeladenglas gähnendes Nichts offenbarte. Das Ärgerlichste daran ist, dass ich selbst gestern nach dem Frühstück das leere Glas zugeschraubt und wieder in den Kühlschrank gestellt hatte. Schon frustrierend, wenn man niemand anderem die Schuld dafür in die Schuhe schieben kann, nicht? Das ist so ähnlich, wie wenn man sich beim Kämmen fürchterlich ziept und keiner da ist, dem man eine Ohrfeige dafür geben kann, verstehen Sie?“ Tiefer Atemzug.
Chance für Herrn Semmel, konsterniert einzuwerfen, nein das verstünde er nicht, er trüge seit mehreren Jahren eine Igelfrisur.
So? Das tut mir leid. Der Zeitungszusteller – übrigens unser Nachbar, wissen Sie, weshalb man doch annehmen sollte, dass er gerne die Chance nutzen würde, sich gleich am Anfang seiner Tour des ersten Exemplares des Tageblattes zu entledigen, indem er es in unsere Zeitungsrolle steckt, was er aber nicht tut, im Gegenteil: Wir bekommen grundsätzlich das letzte, das, das auf dem Gepäckträger seines Fahrrads ganz unten liegt. Das dient dann als Fänger für das hochspritzende Pfützenwasser, weshalb es speziell in dieser Jahreszeit regelmäßig halb durchnässt bei uns landet ... Wo war ich? Ach ja: Also dieser Zeitungszusteller hat mal wieder ein solches Feuchtexemplar so kunstvoll in unsere Röhre gedrückt, dass die beiden ersten Seiten sich fächerförmig aufgeschoben haben und nur noch nach dem Einsatz eines Bügeleisens lesbar sind. Ha, dieses Mal gab es wenigstens jemanden, auf den ich sauer sein konnte. Sind Sie noch dran?“
Herr Semmel hatte sich zwischenzeitlich eine Tasse Cappucino geholt, ein Schild mit der Aufschrift „Bitte nicht stören“ an seine Bürotür gehängt, die Füße auf den Schreib-tisch und den Kopf auf die Rückenlehne seines Drehstuhls gelegt.
Ja, natürlich. Erzählen Sie ruhig weiter ...“
Nun ja, um mich für den mangels Himbeermarmelade und Zeitung entgangenen Frühstücksgenuss zu entschädigen, fuhr ich zum Einkaufen. Der Marathon durch die örtliche Einkaufsstraße ist mir immer ein Quell der Freude, denn wo erfährt man schneller von den härtesten Schicksalsschlägen im Leben der ortsansässigen Möchtegernprominenz als in der Schlange vor der Supermarktkasse, stimmt's? Und wo kann man ausgiebiger eintauchen in den wabernden Dunst der Gerüchteküche als beim Bäcker an der Ecke. Abgründe tun sich da auf, sage ich Ihnen.“
Herr Semmel wagte keinen Einwand. Er hatte mit dem heutigen Tag bereits abgeschlossen.
... und dann schnappt mir die Dünkel auch noch das letzte Päckchen Kaffee vor der Nase weg, also den aus dem Angebot. Ist doch eine Frechheit, oder was meinen Sie?“, setzte Kristina ihren Bericht fort. „An der Kasse schiebt mir so ein Typ mit Rastalocken den Wagen in die Hacken, ohne sich zu entschuldigen, und der Dame vor mir hätte ich gerne den Einkauf eines Stückchens Seife empfohlen, aber egal. Jedenfalls gucke ich in meine Handtasche und mein Portemonnaie ist weg. Einfach weg, sage ich Ihnen. Hatte meinem Sohn fünf Euro Kopiergeld gegeben und vergessen, die Börse wieder einzustecken. Ich dachte immer, nichts könnte mich mehr zum Erröten bringen, aber wenn gefühlte zwanzig Augenpaare einem Löcher in den Rücken brennen ... Hochnotpeinlich, sage ich Ihnen. Haben Sie auch Kinder, Herr Brötchen?“
Semmel. Mein Name ist Semmel!“
Ach ja? Das tut mir leid. Wissen Sie, der Zahnarztbesuch an sich zählt ja in der Regel schon nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, obwohl ich zugeben muss, dass die Praxis meines Vertrauens mit einigen recht ansehnlichen Exemplaren der Gattung Dr. dent. ausgestattet ist. Aber ein Vorsorgetermin, der damit beginnt, dass ich auf dem Stuhl liegend feststelle, dass ich morgens im Halbdunkel meine Jeans übergestreift habe, ohne die vom Vortag noch darin hängende Perlonstrumpfhose zu bemerken, deren Fuß mir wohl schon den ganzen Tag über unten aus dem Hosenbein herausgebaumelt haben muss, wie peinlich, darin gipfelt, dass der neue Arzt eine Ärztin ist und damit endet, dass diese Ärztin einem eröffnet, der H-2-oben-links oder wie das heißt sei kariesgefährdet – wieso überhaupt „gefährdet“? - Tja, ein solcher Termin ist dann doch das Sahnehäubchen auf dem Käsekuchen des Tages, finden Sie nicht?“
Herr Semmel seufzte ergeben.
Ja, natürlich, Sie haben vollkommen Recht. Aber was ist nun mit Ihrer Tastatur?
Meiner Tastatur?“, fragte Kristina irritiert. „Ach so, ja. Also, als ich vorhin nach Hause kam und auch noch die schon vergessen geglaubte Rechnung des Heizungsmonteurs im Briefkasten fand und mein PC gefühlte fünf Minuten zum Hochladen brauchte, das sei aber nur am Rande erwähnt, da dachte ich doch wirklich, es könne nicht mehr viel passieren, inzwischen war ja schon fast Abend, also jedenfalls war es nach fünf, so dass ich mir ein Glas Rotwein auf diesen Tag gönnte. Und das stellte ich neben meine Tastatur. Und dann klingelte das Telefon und Beate war dran, also meine beste Freundin, und die erzählte mir doch tatsächlich, dass ihr Friseur ... Hallo? Herr Semmel?“
I am sailing ...
Alfmann Computer-Reparaturdienst, Service und Support. Leider rufen Sie außerhalb unserer Bürozeiten an. Wir sind für Sie da von montags bis freitags in der Zeit von 9.00 bis ...“
Gunda Jaron

Brand(t)neu

Was kann ich für Sie tun – Lady?“
Die Frau verbiss sich ein Grinsen und unterdrückte den Impuls, „Finden Sie einen Optiker, der günstiger ist als Fielmann“ zu antworten. Schließlich trug sie weder ein knallenges rotes Kostüm noch eine Sonnenbrille, und der junge Mann, der sich so redlich mühte, hinter seinem riesigen Schreibtisch den coolen Jerry Cotton zu geben, hatte mit nichts weniger Ähnlichkeit als dem markigen Typen aus der Werbung. Eigentlich wirkte er eher wie eine Otto-Waalkes-Kopie mit seinen hellblonden Strubbelhaaren. Die Frau schätzte ihn auf höchstens 25.
Brandt, Katharina Brandt“, stellte sie sich vor, verzichtete aber darauf hinzuzufügen, sie tränke ihren Martini nur geschüttelt, nicht gerührt – oder war es umgekehrt? Egal. Sie wollte die gerade erst begonnene Geschäftsbeziehung nicht gleich dadurch negativ beeinflussen, dass der junge Mann glaubte, sie nähme ihn nicht ernst.
Die Frau lächelte. „Wir haben telefoniert“, fügte sie hinzu.
Oh!“ Wie ein geölter Blitz kam der junge Mann hinter seinem Schreibtisch hervor. Eine helle Röte überzog sein Gesicht und hätte ihm durchaus etwas Charmantes verleihen können, wenn dieser Eindruck nicht gleich wieder von dem leicht schmuddeligen Poloshirt zunichte gemacht worden wäre. Katharina zuckte ganz leicht mit ihrer linken Augenbraue. An seinem Outfit würde der Knabe ganz sicher noch arbeiten müssen, wollte er auf seine Kundschaft seriös wirken. Da reichte es einfach nicht, ein Shirt mit Krokodilslogo zu tragen.
Markus, Holger“, antwortete er. „Also Holger vorne und Markus hinten. Verzeihen Sie. Bitte, setzen Sie sich doch!“ Mit einer Handbewegung fegte er einige Computerzeitschriften von dem offensichtlich als Zwischenlager genutzten Besucher-stuhl. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
Katharina schüttelte dankend den Kopf, blieb stehen und sah sich um.
Keine Ahnung, wo die Zeitschriften sonst hätten gelagert werden sollen. Deckenhohe Regale, in denen Kisten undefinierbaren Inhalts neben einer Unmenge von Büchern und Ordnern unterschiedlicher Größe gestapelt waren, nahmen zwei Wände des Raumes vollständig ein. Pullover und offensichtlich ungewaschene Jeans quollen wild durcheinander aus einem der Fächer. Berge von Computerausdrucken drohten von den Brettern zu rutschen. Die beiden PC-Monitore auf dem Schreibtisch waren umgeben von dünnen Aktenmappen mit verschiedenfarbig beschrifteten Aufklebern. Die Tastatur und – Katharina schmunzelte innerlich – eine Lupe verschwanden fast unter einem Wust an Papier, und etliche Kabel sowie einige Spinnweben verbanden technische Gerätschaften miteinander, über deren Bedeutung Katharina nur rätseln konnte. An der Wand hinter dem Schreibtisch war ein Whiteboard angebracht. Mindestens fünfzig Farb- und Schwarz/Weiß-Fotos waren mit Magnet-haltern darauf befestigt, verbunden durch ein Netzwerk von Pfeilen und hastig hingekritzelten Notizen. Über einen Mangel an Kundschaft konnte sich Nachwuchsermittler Holger Markus offensichtlich nicht beklagen.
Vorsichtig ließ die Frau ihren Blick weiterwandern, während der junge Mann geduldig wartete.
In einer Zimmerecke lehnte ein offener Rucksack mit dem Logo einer exklusiven Ledermarke, in dem eine teure Fotoausrüstung verstaut zu sein schien. Ein Teleobjektiv von beeindruckender Größe ragte daraus hervor. Ein schmaler Schrank, ein ebenso schmales Bett und ein Kühlschrank, auf dem eine Einplatten-Kochstelle gemeinsam mit einer benutzten Teetasse und einem angebissenen Apfel ein trauriges Stillleben bildeten, vervollständigten die Einrichtung. Einige Kakteen auf der Fensterbank fristeten ein einsames Dasein zwischen aufgerissenen Chipstüten. Zögerlich wanderte Katharinas Blick weiter zu dem überfüllten Mülleimer und von da in Richtung Teppich, nur um sich rasch von dort schaudernd wieder ab- und erneut dem jungen Mann zuzuwenden.
Sie setzte sich und auch Holger nahm wieder seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein, dieses Mal aber in einer der Situation weitaus angemesseneren Position, als Katharina ihn vorhin angetroffen hatte. Schließlich ging es hier ums Geschäft.
Ich gehe recht in der Annahme, dass dieses Zimmer hier“, sie umfasste mit einer entsprechenden Handbewegung den gesamten Raum, „sowohl als Büro als auch als Wohnung dient!?“
So ist es“, konstatierte Holger Markus. „Das Unternehmen läuft allerdings nicht schlecht, und so hoffe ich, mich in abseh-barer Zeit wohnlich verändern und meine Kundschaft dann auch in einem etwas respektierlicheren Ambiente empfangen zu können, aber bis es soweit ist, würde ich mich gern auf Sie verlassen. Ich baue allerdings darauf, dass sich zwischen uns eine so vertrauensvolle Atmosphäre entwickelt, dass Sie mir auch nach einem eventuellen Umzug eine verlässliche Stütze bleiben werden. Sie verstehen sicher, wie wichtig in meinem Gewerbe die Aufrichtigkeit, Gewissenhaftigkeit und Ver-schwiegenheit von Mitarbeitern ist, nicht wahr?“
Katharina schwieg beeindruckt. Hinter dem ganzen Jerry-Cotton-Gehabe verbarg sich offenbar ein intelligentes Kerlchen mit einem helleren Köpfchen, als der erste Anschein hatte vermuten lassen. Taktik? Und rhetorisch gewandt war ihr Gegenüber auch noch. Nichts stieß Katharina mehr ab, als wenn jemand nicht in der Lage war, sich korrekt auszu-drücken. Ja, es würde Spaß machen, mit Holger Markus zusammenzuarbeiten. Sie nickte bestätigend.
Es ist heutzutage gar nicht so einfach, adäquates Personal zu finden“, fuhr der Mann fort. „Nun, Sie haben sich umgesehen und wissen, was auf Sie zukommt. Was meinen Sie, kommen wir ins Geschäft?“
Katharina strich auffällig mit dem Mittelfinger über die Schreibtischkante und blies anschließend den Staub von der Fingerkuppe. „Ich denke schon. Und auch die Konditionen erscheinen mir mehr als fair. Wann soll ich anfangen?“
Am liebsten sofort“, lächelte Holger. „Den Staubsauger und einen Wischeimer finden Sie in dem Schrank im Treppenhaus und Lappen und Putzmittel in dem Karton da unten. Für die Erledigung der Wäsche zahle ich natürlich extra.“ Er streckte Katharina seine Rechte über dem Schreibtisch entgegen. „Dann auf gute Zusammenarbeit.“
Gunda Jaron

Cantaloupe

Nicht schon wieder ...
Cantaloupe stöhnt innerlich. Die Hand, die sich prüfend ihrer wohlgeformten Rundung nähert, ist groß und dunkel behaart.
Oh, Mann, jetzt werde ich wieder von allen Seiten auf diese fiese Art betatscht werden ...
Oder etwa doch nicht? Überrascht entspannt sich Cantaloupe. Die Hand hat sich fast zärtlich über ihre beige-braune Wölbung gelegt. Ganz leicht streicht der Daumen über ihre empfindlichste Stelle und drückt sie sacht. Na, das ist doch mal eine angenehme Berührung. Nicht so wie gestern, als dürre Krallen sie befingert und scheußlich spitze Nägel sich in ihre zarte Knospe gebohrt haben. „Noch unreif“, hat eine missbilligende Stimme gesagt und Cantaloupe gleichgültig wieder zu den anderen Melonen in ihr Papierbett zurückgelegt.
Igitt, was ist das denn?
Kurze, stachelige Borsten, die aus zwei dunklen Löchern hervorlugen, kitzeln Cantaloupe. Ach ja, „olfaktorische Prü-fung“ hat der Mann mit dem weißen Kittel das gestern genannt. Na, offensichtlich hat sie die bestanden, denn die Hand legt Cantaloupe vorsichtig in einen chromglänzenden Einkaufswagen. Gespannt sieht sie sich um. Überall Gitter-stäbe, durch die man hindurchschauen kann. Aufgeregt, aber auch ein bisschen wehmütig wirft sie einen Blick auf ihre Gefährten der letzten Tage: Auf Fragaria, dieses freche, rote Früchtchen, Chiquita, so jung und schon so krumm, und Galia, die ihr so ähnlich sieht mit ihrer gelb-grünen, netzartig gemaserten Schale.
Aua ...
Rumpelnd hat sich ihr Gefährt in Bewegung gesetzt und Cantaloupe kugelt ein wenig hin und her.
Hey, was passiert jetzt?
Die behaarte Hand taucht erneut auf und stellt etwas Hartes neben Cantaloupe. „Veuve Cliqu ...“ Mehr kann sie nicht entziffern. Klingt französisch. Bewundernd schaut sie auf das orangefarbene Etikett, welches das elegante Erscheinungsbild der dunkelgrünen Figur aufs Trefflichste unterstreicht. Stil hat er ja, der Typ mit dem Handrücken- und Nasenlochbewuchs.
Unauffällig kullert Cantaloupe etwas näher an den Dunkelgrün-Durchsichtigen heran. Schüchtern stupst sie ihn an. Keine Reaktion. Nicht das kleinste Bläschen lässt er grüßend an die Oberfläche steigen. Fast scheint es sogar, als recke er seinen goldbehelmten Kopf noch etwas höher. Eingebildeter Fatzke. Franzose eben.
Neugierig späht Cantaloupe durch die Gitterstäbe. Nicht doch! Tu mir das nicht an! Bereits ins Grünliche changierende, rötlichbraune Scheiben mit breitem Fettrand landen unsanft neben ihr. Igitt, wie unappetitlich. Erleichtert beobachtet Cantaloupe, wie eine schmale, pfirsichduftende Hand die plastikummantelten Heinis wieder ins Regal zurückbefördert. Und tschüss ...
Haaalt! Tatsächlich, der Behaarte scheint sie gehört zu haben. Fasziniert blickt Cantaloupe auf die hinter Glasscheiben appetitlich angerichteten Köstlichkeiten. Jaaa, das ist der Richtige. Dieser rosarote, von einer feinen weißen Maserung durchzogene, hauchdünn aufgeschnittene Prosciutto di Parma, der sich mit ihr, Cantaloupe, bald geschmackvoll vereinen wird. So hat es jedenfalls die Bauersfrau damals, nach der Ernte, vorhergesagt. Na, nicht so geizig, ein paar mehr dieser würzig nach dem Apennin duftenden Scheiben dürfen es ruhig sein. Ach ja, Italien ... Etwas wie Heimweh erwacht in Cantaloupe.
Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung. Ab und an stoppt er und neue, interessante Dinge gesellen sich zu Cantaloupe. Das gleichmäßige Geschaukel lässt sie in einen wohligen Halbschlaf versinken, aus dem sie erst wieder erwacht, als sie zusammen mit allen anderen kulinarischen Leckereien auf ein Laufband gelegt, an einem rotblitzenden Piepding vorbei-gezogen und schließlich in einer bunten Tüte verstaut wird. Bisschen eng und ungemütlich.
Hey, schau mich nicht so abschätzend an. Wer bist du überhaupt? Linda? Nie gehört. Festkochend und goldgelb, aha.
Leises Brummen wiegt Cantaloupe aufs Neue in süßen Schlummer, so dass sie ein bisschen aufschreckt, als sich Camembert an sie schmiegt. Sein zarter, weißer Flaum ist durch die glänzende Folie gerade noch zu erahnen. Na, dieser Franzose gefällt ihr ...
Zarte Geigentöne erfüllen den Raum, scheinen geradezu anmutig in der Luft zu schweben. Der Schein Dutzender Kerzen taucht den Tisch und die beiden daran Sitzenden in ein warmes, malerisches Licht. Edel geschliffene Kristallgläser funkeln mit silbernem Besteck um die Wette. Dem Diamant-ring, der fast verschämt aus dem geöffneten, dunkelblau ausgeschlagenen Schmuckkästchen hervorblitzt, können sie jedoch nicht das Wasser reichen.
Hingerissen nimmt Cantaloupe – jetzt nur noch lose auf ihrer dekorativ gemusterten Schale, dafür aber in enger Umarmung mit dem Prosciutto angerichtet – die Szenerie ringsherum in sich auf.
Mein GOTT! Ist das ROMANTISCH!
Veuve ist auch schon da. Ha, ohne seinen goldgelben Helm sieht er nur noch halb so vornehm aus. Mit lautem Plopp hat sich auch sein Korken schon verabschiedet. Sehr weltmännisch hat es ausgesehen, als die großen Hände die Flasche leicht schräg gehalten, den Verschluss mit gezieltem Daumendruck aus dem Hals befördert und dann die schäumende Flüssigkeit in die hohen Champagnerflöten gegossen haben. Etwas Kohlensäure ist dabei zischend entwichen und die beiden dunklen Löcher mit den borstigen Stoppeln darin haben angefangen zu beben. Haaatschi ...
Cantaloupe grinst verschmitzt. Jetzt kann Veuve die feinen Bläschen nicht mehr am Aufsteigen hindern.
Ein helles Klingen lässt sie aufhorchen. Die Behaarte und die Pfirsichduftende haben jede eines der funkelnden Gläser erhoben und deren Ränder leicht zusammengestoßen.
Na denn, adieu, Franzose ...
Wann wird er denn nun endlich kommen, der ersehnte Moment? Da, eines der blankpolierten Messer nähert sich von rechts, die Zinken einer Gabel von links.
Prosciutto ...“, flüstert Cantaloupe leise, „nun geht’s los ...“ Und ihr scheint es, als schmiege sich Prosciutto für einen kurzen Moment noch ein wenig fester an sie, bevor sie beide mit einem scharfen Schnitt durchteilt, von vier Zinken durchstochen und in eine dunkle, schwach nach Veuve riechende Höhle geschoben werden.
Cantaloupe lächelt, obwohl ihr schon ein wenig mulmig zumute ist. Gleich werden sich Prosciutto und sie auf eine interessante Reise begeben, auf der sie auch dem Champagner wiederbegegnen werden. Gemeinsam mit ihm und Camembert, der ihnen später folgen wird, werden sie vielleicht über Linda schmunzeln, die so stolz auf ihre goldgelbe Färbung ist, Roastbeef darüber hinwegtrösten, dass es einen Hauch zu lange gegart worden ist, und sich alle zusammen über das nachdrängelnde Tiramisu beschweren.
Autsch, ganz so hat sich Cantaloupe das aber nicht vorgestellt. Kräftige weiße Zähne haben begonnen, ihr saftiges orangefarbenes Fruchtfleisch mit dem Zartrosa des würzigen Prosciutto zu vermengen. Erst erschreckt sie ein wenig, aber dann spürt Cantaloupe, wie ihre Verbindung mit Prosciutto immer enger und intensiver wird.
Sie ist schon gespannt, wann und in welcher Form sie einst wieder das Tageslicht erblicken wird ...
Gunda Jaron

Gläserne Perspektive

Das ist sie wieder, diese Frau.
Fast täglich kommt sie auf dem Weg zur Arbeit hier vorbei.
Manchmal, wenn es regnet, schenkt sie mir kaum einen flüchtigen Blick, hastet nur eilig vorüber.
Und einmal, wahrscheinlich glaubte sie, dass niemand es bemerkt, hat sie sogar den Kopf von mir abgewandt. Tränenspuren müssen auf den Wangen zu sehen gewesen sein, denn noch am nächsten Tag sah sie traurig aus.
Meist aber, besonders an hellen Tagen wie diesem, bleibt sie direkt vor mir stehen. Lächelt freundlich, streicht sich ordnend mit der Hand über das Haar, glättet eine Falte ihrer Bluse oder rückt ihre große Sonnenbrille zurecht. Ab und zu zückt sie sogar einen chromglänzenden Stift aus ihrer Tasche, um verstohlen das Rot auf ihren vollen Lippen aufzufrischen.
Das Wort allerdings richtet sie nie an mich, da kann ich noch so sehr glänzen.
Hin und wieder wird sie von einer Freundin begleitet. Dann reden beide miteinander, als sei ich gar nicht da, dennoch wirft mir jede von ihnen einen heimlichen prüfenden Blick zu und ich glaube, ein verstecktes Zwinkern in ihren Augenwinkeln entdecken zu können.
Ein fremder Beobachter würde sich vermutlich wundern, was junge Frauen an mir so fasziniert, ist doch das, was ich ihnen aus seiner Sicht offenbare, nicht wirklich dazu angetan, ein Lächeln auf ihre Gesichter zu zaubern. Ich aber ahne den Grund.
Die Wand hinter mir ist mit einem schwarzen Baumwollstoff bezogen und die Regale davor ganz mit dunklem Samt ausgeschlagen. Die wenigen Exponate darauf, Porzellan-gefäße mit Deckel, steife Zylinder und Fotos von Holzkisten, dürften kaum als Blickfang für die jungen Frauen dienen, sie aber auch nicht weiter stören, wenn sie in mir ihr Erscheinungsbild einer letzten kurzen Prüfung unterziehen, bevor sie in die Straßenbahn steigen oder in einem der umliegenden Bürohäuser verschwinden.
Schade, das wird sich jetzt wohl ändern. Farbeimer und eine Leiter stehen bereit, ab morgen wird die Wand hinter mir in leuchtendem Gelb erstrahlen. Die Regale mit den Urnen werden lebensgroßen Puppen weichen und auf meiner Vorderseite bunte Buchstaben prangen. Bald werden helle Sommerkleider, farbige Blusen und moderne Jacken in der Auslage die Kunden in den Laden locken.
Sicher, die Frau wird auch weiterhin kommen, aber ihr Blick wird durch mich hindurchwandern, als sei ich gar nicht vorhanden, denn nicht ich werde mehr der Grund für ihr Verweilen sein, sondern das heimliche Wünschen und Sehnen nach jenem, was dann hinter mir ausgestellt ist und die Herzen junger Damen höher schlagen lässt.
Vielleicht aber wird sie manchmal einen Augenblick wehmütig daran zurückdenken, wie sie einst vor mir stehen blieb, um sich kritisch zu betrachten oder sich einfach nur ihres eigenen Anblicks zu erfreuen.
Ob sie in all den Jahren jemals bemerkt hat, dass sie ihr Lächeln der Schaufensterscheibe eines Bestattungsunter-nehmens schenkte?




Thomas Staufenbiel

VoneinemderauszogRechteszutun

Das war ein Schuss.
Ich bin vollständig aufgelöst, durcheinander, versuche mich zu sammeln und schnappe aufgeregt nach Luft.
Also ein Schuss ist gefallen. Kein Knall der Sorte Feuerwerkskörper, einer der tödlichen Art, das weiß ich sofort. Hier in der beschaulichen Kleinstadt, in der es außer den wenigen Straßenzügen mit ihren nicht gerade einladenden Fassaden, den heruntergekommenen Läden und der verruchten Kneipe nun wirklich nichts Außergewöhnliches gibt. Hier, wo sich direkt hinter dem verblichenen Ortsaus-gangsschild Fuchs und Hase Gute-Nacht-Geschichten erzählen und sich einsame Wölfe des Nachts zu Rudeln zusammenschließen, nur um ihr ewiges Klagelied gen Himmel zu senden. Hier also fällt ein Schuss.
Gerade bin ich – vom Bäcker Schlachtmann unterwegs zum Metzger Krümel – um die Ecke gebogen, da blicke ich ungläubig auf die Szenerie und erlebe den Alptraum meines Lebens. Direkt vor mir passiert es. Ein maskierter, dunkler Geselle läuft schnellen Schrittes mit gezogener Waffe auf einen älteren Mann zu, bedroht ihn kurz mit Pistole und barschen Worten. Dann fällt der Schuss und ich erschrecke fast zu Tode.
Nun verkörpere ich wahrlich nicht die Rolle eines Helden von jener Sorte, deren Foto in irgendeiner Zeitung neben der Titelzeile „Aufopferungsvoller Bürger rettet Nachbarn aus ehelichem Streit und verhindert so tödliches Massaker“ oder so ähnlich erscheint. Doch was ich hier sehe, muss auch mich zutiefst schocken und den Samariter gleichermaßen in mir wachrufen wie den Rächer. Einige der wenigen Passanten bleiben wie angewurzelt in der Nähe stehen, zeigen mit Fingern auf die unwirkliche Kulisse, scheinen eher belustigt als beunruhigt zu sein, dass ein alter Mann mit einem sauberen Schuss niedergestreckt worden ist. Andere rennen hektisch beiseite und rufen laut nach der Polizei. Endlich mal was los in diesem Kuhdorf.
Ich schaue mich um. Wo ist er? Dort drüben hinter den Mülltonnen hat sich der Ganove versteckt. Mir bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Bevor meine Chance verrinnt, renne ich quer über die Straße, packe ihn am Kragen und schleife den Übeltäter hinter den Tonnen hervor. Dieser sieht sich nun von mir wild und laut schimpfend verprügelt. Ich bin außer mir vor Wut und drücke den Gauner heftig zu Boden. Dass ich ihn dabei aufs Schmerzlichste verletze, ist mir egal, denn er hat Unrecht getan.
Plötzlich aufkommendes Geschrei bemerke ich kaum. Eine große Menge von aufgeregten Menschen hat sich um uns versammelt.
Kräftige Burschen zerren mich von dem Übeltäter fort, beschimpfen nun mich und drehen mir rüde die Arme auf den Rücken. Erstaunt blicke ich auf zwei blau Uniformierte, die mir schneller Handschellen anlegen, als Max, unser Regisseur, „Schnitt“ rufen kann.
Schnitt, Schnitt, Schnitt! Verdammt nochmal. Solche Volltrottel. Dorfpolizisten! Was fällt denen ein, unseren Haupt-darsteller festzunehmen? Was ist das hier bloß für ein Kaff. Ich hab gleich gesagt, lass uns den Krimi in Berlin drehen ...“
Gunda Jaron

Des einen Freud, des anderen auch

Ihr Mann ist Heimwerker, stimmt's? Mir können Sie nichts vormachen, ich kenne die Anzeichen. Sie zum Beispiel haben diesen leicht unsteten Blick aus rotgeränderten Augen, der mir sagt, dass Sie heute auf der Couch übernachtet haben. Ihr Gatte hat das Ehebett zerlegt, um dem nächtlichen Gequietsche auf die Spur zu kommen, und jetzt will er bei der Gelegenheit Schubladen in die Seitenteile einbauen und das Schlafzimmer neu tapezieren? Ins Schwarze getroffen? Dachte ich mir.
Oder schauen Sie, die Dame am Nachbartisch. Die mit den weißen Spritzern auf den Schuhen und den Resten von Binderfarbe unter den Fingernägeln. Die Sprösslinge sind aus dem Haus, ihr Gemahl nutzt die Gunst der Stunde, nicht nur im Kelleraufgang die letzten Spuren frühkindlicher Zeichenkünste zu tilgen, sondern gleich das ganze Treppen-haus zu streichen, und sie darf anschließend die Farbreste vom Boden kratzen.
Sehen Sie die Graubehelmte, die gerade hereinkommt? Wetten, dass das nicht ihre natürliche Haarfarbe ist? Kommen Sie, hier ist noch ein Platz, setzen Sie sich zu uns. Fliesen, nicht wahr? Wegen eines Risses aus dem Mörtelbett herausgemeißelt und jetzt der Neuverlegung harrend? Das kann dauern, meine Liebe, ich spreche da aus Erfahrung. Erst müssen noch die restlichen Bodenkacheln die Fingerspitzen-Klopfprobe bestehen. Und wehe, sie antworten mit einem hohl-dumpfen „Ploch“, dann wird die Baustelle umgehend erweitert. Nein, nein, die staubigen Zeiten sind noch lange nicht beendet, glauben Sie mir. Vermutlich tragen Ihre Gar-dinen Trauerflor und Ihr Wellensittich leidet an chronischem Reizhusten?
Hallo! Zwei Gläschen Sekt, einen Rotwein und dreimal das Damenmenü Nummer zwei, bitte!
Und gucken Sie mal aus dem Fenster. Die Frau, die gerade ihren Partner hier abgesetzt hat. Die in dem blauen Kleinwagen mit dem Kind und dem riesigen Schwimmreifen auf dem Rücksitz. Die fährt jetzt fremdbaden. Vermutlich ist zu Hause der Haupthahn zugedreht, da ihr Angebeteter nicht nur den verstopften Badewannen-Siphon reinigt, sondern gleich eine neue Dusche einbaut, weil er gerade so schön dabei ist ...
Ich? Ach, ich verbringe jeden Samstagmittag in diesem Lokal. Wissen Sie, früher hatte ich den Verdacht, mein Mann habe eine heimliche Geliebte, weil er jedes Wochenende plötzlich verschwand, Stunden später mit leuchtenden Augen zurückkehrte und sich dann wortlos in seinen Bastelkeller zurückzog, aber ein Rendezvous im Blaumann und mit Sicherheitsschuhen? Ich bitte Sie! Nicht wirklich! Na, und eines Tages bat er mich dann mal, ihn zu begleiten, und inzwischen weiß ich diese Samstage wirklich zu schätzen. Hat was für sich, denn wenn der Küchenfußboden aufgerissen oder das Wasser abgestellt ist, kann man schließlich nicht hausfraulich tätig werden, und was gibt es dann Besseres, als seinen heimwerkelsüchtigen Mann im Baumarkt abzugeben und sich im Restaurant nebenan mit anderen Frauen zum Gedankenaustausch zu treffen? Ja, natürlich gehört auch mein Göttergatte zur Klasse der tüftelnden Alleskönner und ich bin sogar stolz darauf. Was glauben Sie, welchem Umstand ich meine Topfigur zu verdanken habe? Ich sage nur: Hometrainer. Angeschlossen an den Fernsehapparat. Will ich den Tatort gucken, muss ich trampeln. Erspart das Fitnessstudio und entlastet das Konto. Ebenso wie die Tatsache, dass der neu installierte Herd an die Zuleitung des Nachbarn angeschlossen ist, da brauche ich mit dem Gas nicht zu geizen. Praktisch, nicht wahr? Die Restwärme meines Bügeleisens kann ich übrigens zum Crèpe-Backen nutzen und seit der Reparatur der Türscharniere hat mein Kleiderschrank sogar Innenbeleuchtung. Sehr brauchbar: Sollte ich mal einen Liebhaber darin verstecken wollen, kann der sich die Zeit mit dem Lesen der Waschetiketten vertreiben. Hallo, Herr Ober, bitte noch drei Cognac und die Dessertkarte!
Also ich finde es ganz angenehm, hier zu sitzen. Es ist hell, warm und sauber, um das Essen brauchen wir uns nicht zu kümmern und die Männer sind beschäftigt und sitzen nicht in der Kneipe rum. Alles eine Frage der Perspektive eben. Prost.
Gunda Jaron

Begegnung orientalischer Art

Der Wagen erschien auf die Minute pünktlich. Mit einer Hand raffte ich mein langes und wegen seiner Weite beim Einsteigen ein wenig hinderliches Gewand zusammen, mit der anderen drückte ich die schwarz-weiße Haube fester an den Kopf, damit sie nicht verrutschte. Die Schwestern Annabel und Amelie nahmen im Fond Platz, ich selbst setzte mich vorne zu Joseph, unserem Fahrer. Als der Wagen anfuhr, sah ich mich kurz zu den beiden jungen Frauen in ihren langen dunklen Kutten mit den frisch gestärkten, weißen Kragen um. Die Vorfreude auf das Ereignis, dem wir schon so lange heimlich entgegengefiebert hatten, stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Ihr seid aufgeregt, nicht wahr?“, fragte ich mit einem Blick in ihre strahlenden Augen.
Ja, Mutter.“ Beinahe unisono erklang ihre Antwort und ich lächelte, denn ich verstand sie gut. Wann hatten wir schon die Gelegenheit, an einer Veranstaltung wie der heutigen gemeinsam teilzunehmen. Und für die noch sehr jungen, gerade erst ins Erwachsenenalter eingetretenen Schwestern war es ohnehin das erste Mal, dass ihnen der Besuch derselben gestattet war. Das Publikum würde bunt gemischt und die Wortbeiträge vermutlich hochinteressant sein, war uns im Vorfeld versichert worden, so dass wir die Lokalität mit einer gewissen Erwartungshaltung betraten, nachdem Joseph uns zuvor beim Aussteigen behilflich gewesen war und uns dann respektvoll die Türen zum Foyer aufgehalten hatte.
Unwillkürlich hielt ich den Atem an und spürte, dass Annabel und Amelie es mir gleichtaten. Die seltsam fremde Atmosphäre des festlich geschmückten Saales nahm uns sofort gefangen. Mehrere lange, geschmackvoll dekorierte Tische, an denen jeweils etwa zwanzig Personen Platz finden konnten, waren so aufgestellt worden, dass selbst während des Essens noch ein Blick auf die am Ende des Raumes aufgebaute, ebenfalls fantasievoll ausgestaltete Bühne mit dem Rednerpult möglich war. Die Deckenlampen strahlten ein warmes, durch elegant drapierte Tücher leicht gedimmtes Licht aus und die Luft schien vor unterdrückter Spannung zu vibrieren.
Köstliche Speisen ganz anderer Art, als Annabel, Amelie und ich sie sonst gewohnt waren, warteten auf dem an der Wand aufgebauten Buffet darauf, von uns verzehrt zu werden, und verbreiteten einen aromatischen Duft. Ein musikalischer Klangteppich schwebte durch den Raum, nicht gerade dezent, wie ich fand, aber das störte mich nicht sonderlich, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, die reizvolle Umgebung mit allen Sinnen in mir aufzunehmen.
Am interessantesten war der Anblick der bereits anwesenden Gäste. Man hatte uns wahrlich nicht zu viel versprochen. Die faszinierendsten Gestalten bevölkerten den Saal und meine Augen blieben an einer Gruppe selbst für diese Umgebung sehr ungewohnt gekleideter Personen hängen. Vier von ihnen waren in helle Kandoras, den traditionellen Kaftan eines Scheichs gehüllt, zwei hingegen trugen einen europäisch anmutenden, eleganten schwarzen Anzug. Kaschmir, wenn sich meine in solchen Dingen recht ungeübten Augen auf die Entfernung nicht irrten. Alle aber hatten ihre Kleidung ergänzt durch ebenfalls weiße Kopftücher, die von schwarzen Bändern umschlungen waren.
Darf ich Ihnen ein Glas Sekt anbieten? Oder lieber Orangen-saft?“
Eine freundliche Stimme riss mich aus meinen Betrachtungen. Erschreckt bemerkte ich, dass ich die sechs Beduinenfürsten ziemlich unverfroren geradezu angestarrt hatte, und ich spürte, wie ich errötete. Dankbar erfasste ich eines der auf einem silbernen Tablett kredenzten Gläser, bot mir doch diese Geste die Möglichkeit, die Peinlichkeit, die ich wegen meines ungebührlichen Verhaltens empfand, zu verbergen. Annabel und Amelie hatten bereits zugegriffen und prosteten mir zu, ein scheues Lächeln auf den Lippen. Mir konnten sie nichts vormachen, die Schwestern genossen die Stimmung und das Flair des ungewohnten Ambientes genauso wie ich. Ihre kugelrund aufgerissenen Augen leuchteten in neugierigem Staunen und ich schmunzelte etwas über ihre kindliche Begeisterungsfähigkeit. Eine blonde Strähne hatte sich aus Amelies strenger Frisur gelöst und mit einer schnellen Geste strich ich die vorwitzige Locke wieder unter den Rand des weißen Schleiers zurück, bevor ich mit einem leichten Nicken mein Glas hob.
Verstohlen nippte ich an dem wohlschmeckenden Schaum-wein und wandte mich dann wieder der Betrachtung der anderen Veranstaltungsteilnehmer zu. Wie von einer magischen Kraft angezogen, erschien erneut die Gruppe der nahöstlich gekleideten Gestalten in meinem Blickfeld und ich erlaubte mir, halb versteckt hinter meinem Sektglas, sie genauer in Augenschein zu nehmen.
Blankpolierte Lackschuhe unter den wallenden Gewändern und den tadellos sitzenden Hosen der Maßanzüge vervollständigten das stilvolle Erscheinungsbild der sechs. Goldene Armbanduhren blitzten dezent zwischen perfekt gebügelten, schneeweißen Manschetten und olivbraunen Handgelenken auf. Mindestens acht Karat, so schätzte ich, hatte der Brillant am linken Ringfinger des Ölprinzen, der ein wenig abseits der anderen stand. Meine Augen wanderten an der schmalen und doch kraftvollen Figur hinauf zu der schweren Platinkette, die den schlanken Hals zierte. Irgendetwas an der Haltung dieses Menschen irritierte mich, kam mir vertraut vor, wie ich plötzlich überrascht registrierte. Unauffällig, wie ich hoffte, zog ich die beiden sich bescheiden hinter mir haltenden Schwestern näher in Richtung dieses Scheichs, um ein paar der Worte aufschnappen zu können, die er soeben mit einem der Kaftanverhüllten wechselte. Verblüfft horchte ich auf den mir eigenartig bekannten Klang. Mir war, als habe ich diese Stimme schon einmal gehört, aber in meinem Kopf wollte einfach kein dazu passendes Bild auftauchen. Ein Hauch von Chanel No. 5 stieg in meine Nase und verwirrte mich noch mehr. Wie gebannt starrte ich die hinreißend fremdländische, königlich erhaben wirkende Erscheinung an und vergaß alles andere um mich herum. Wer, zum Teufel ... Bestürzt über meine eigene gedankliche Wortwahl hielt ich inne. Wie ungehörig von mir.
Und da geschah es. Die Stimme verstummte und der Scheich drehte unvermittelt seinen Kopf in meine Richtung. Wie ein Pfeil traf mich ein glutvoller, verwegener Blick unter buschigen Augenbrauen heraus, schien mich festhalten zu wollen, geradezu zu durchbohren. Ob mir meine Ratlosigkeit anzusehen war? Die schön geschwungenen, von einem tiefschwarzen, fast schon unnatürlich dichten Bart umgebenen Lippen waren leicht geöffnet, als wollten sie mir einen Kuss zuwerfen, bevor sie sich zu einem leichten, etwas spöttisch anmutenden Lächeln verzogen – und blitzartig durchzuckte mich die Erkenntnis. Ich nickte kaum merklich, unfähig, meinen Kopf abzuwenden und meinen Blick von dem so überaus attraktiven Bild zu lösen, obwohl ich mir bewusst war, wie unhöflich das wirken musste.
Ein leichtes Räuspern zu meiner Rechten holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Annabel, eine der beiden Schwestern, zupfte mich leicht am Ärmel.
Mutter Oberin“, rügte sie mich streng und in ihren Augen funkelte der Schalk, „bitte benehmt Euch geziemend!“
Erschrocken, dass mein heimliches Beobachten nicht unbe-merkt geblieben war, senkte ich schamhaft die Lider. Wie hatte ich auch nur für einen Moment vergessen können, dass ich das Gewand einer Nonne trug. Seufzend stellte ich mein leeres Glas auf dem soeben dargebotenen Tablett ab und ließ mich von Amelie gesittet zu unserem gleich in der Nähe stehenden Tisch führen, an dem bereits zwei Polizisten, drei Putzfrauen, ein Mozart, eine Madame Pompadour, vier Schmetterlinge und ein Pik Ass Platz genommen hatten. Bevor die Serviererin wieder das Weite suchen konnte, ergriff ich drei der frisch gefüllten Sektflöten, drückte meinen beiden Töchtern Annabel und Amelie je eines in die Hand und gemeinsam kicherten wir drauflos.
Mädels, nun seid mal nicht so kleinlich“, blitzte ich sie fröhlich an und winkte meiner Nachbarin Beate zu, die in ihrer Scheichkostümierung wirklich umwerfend aussah, „Weiber-fastnacht ist schließlich nur einmal im Jahr.“
Zu guter Letzt: Schlussendliches


Es ist vollbracht

Das hätten Sie nicht gedacht, was? So etwas im Zeitalter von eBook und Co.?
Ich gebe zu, auch ich dachte, diese Spezies sei längst ausgestorben, verstaubt in antiken Räumen mit Plüsch-vorhängen und Ohrensesseln. Zimmern, in denen die Luft vom Rauch des Kaminfeuers und der Tabakpfeife geschwängert ist, und deren Wände die Aura längst vergangener Jahrhunderte atmen. Überdimensionale Kronleuchter erhellen die Szenerie, werfen ihr Licht in verschwiegene Ecken und vor allem auf die ausgedehnten Regale, die sich meilenweit zu erstrecken scheinen. Leitern führen von irgendwo kommend hinauf in entfernte Gefilde menschlichen Denkens. Vor meinem geistigen Auge erscheint ein Bild: Oben auf der Leiter steht ein älterer Herr, graue Haare, schwarzer Frack. Ein Buch zwischen den Beinen, eins unter dem Arm, eins in seiner Rechten und eins, das in seiner Linken, ganz dicht vor der Nase, lesend. Ein Lichtschein fällt auf das Bücherregal vor ihm, erleuchtet schwach die Rubrik, mit der er sich beschäftigt: Metaphysik.
Dieses Bild hing lange neben meinem eigenen großen Bücherregal. Jetzt – nach vielen Jahren und einigen Umzügen ist es mir abhanden gekommen – lebt Spitzwegs Bücherwurm in meinem Herzen weiter.
Wissen Sie, eBook-Reader und Co. sind etwas Wunderbares. Sie haben in diesen Geräten eine ganze Bibliothek unter dem Arm und können wo Sie gehen und stehen in Ihren Lieblingsbüchern lesen. Aber haben Sie sich schon mal mit einem solchen Gerät unter die Bettdecke gekuschelt, um sich von einem romantischen Happy-End in den Schlaf wiegen oder gar von einem spannenden Krimi wachhalten zu lassen? In solchen Augenblicken fehlt der Geruch von Druckerschwärze und Papier, die Möglichkeit, Worte nicht nur zu lesen, sondern sie auch anzufassen – und notfalls mit ihnen einzuschlafen.
Heute ist etwas Wundervolles passiert. Ein großer brauner Umschlag liegt vor mir. Ich öffne ihn. Mir fällt ein flaches Rechteck daraus entgegen, schön eingewickelt und verschnürt wie ein Geschenk. Langsam packe ich es aus, falte sorgfältig das Papier zusammen, bevor ich es zur Hand nehme: Ein Buch. Genauer gesagt: Die Erstausgabe. Andächtig streiche ich über den Einband, lasse die Seiten beim Aufblättern durch die Finger gleiten, genieße diesen speziellen Geruch, den nur ein druckfrisches Exemplar ausströmen kann.
Es ist vollbracht. Ich atme tief durch, meine Augen glitzern: Unser Werk.
Wie oft hieß es bereits, das gedruckte Buch sei tot. Das ist es nicht – und den lebendigen Beweis dafür halte ich nun in meiner Hand. Und Sie auch.
Ohne euch wär's nicht passiert

Eigentlich liest das ohnehin kaum jemand, oder? Ich konnte es mir dennoch nicht verkneifen: Bei einer Handvoll Leuten bedanke ich mich für ihre Unterstützung, auch wenn sie selbst davon aktiv vielleicht gar nichts mitbekommen haben. Zunächst bei zwei Frauen. Meiner Tochter für ihren unerschütterlichen Glauben („Mama, irgendwann schreibst du mal ein Buch. Ich kenne ein paar Leute, die es kaufen würden ...“) und meiner Mutter für ihre aufmunternden Worte („Mach doch, manche starten eben erst richtig durch, wenn sie älter werden.“) Danke, Mama ...!
Und dann bei drei Männern. Bei Thomas Staufenbiel, der nicht nur den Anstoß für die Zusammenarbeit zu diesem Buch gab, sondern mir auch die Augen öffnete, wenn mich bei meinen eigenen Texten mal wieder die Betriebsblindheit geschlagen hatte, und bei Slov ant Gali, einem befreundeten Autor, für das geliehene Wort, sein gelegentliches Knurren und so manche Inspiration ... Und last but not least bei meinem Mann dafür, dass er nicht den Stecker zog, wenn er mal wieder stundenlang mit der Ansicht meiner Rückfront vorlieb nehmen musste. Danke, Leute! - Ach, einen ganz besonderen Mitstreiter darf ich natürlich nicht vergessen: meinen kirschbaumhölzernen Schreibtisch, der mir die ganze Schaffensphase über zuverlässig zur Seite beziehungsweise unter meinen schreibenden Händen gestanden hat, manchmal schwer von mir belastet und manchmal etwas unaufgeräumt – aber immer mit allen vier Beinen fest auf dem Boden.
Gunda Jaron

Ich danke unseren Lesern für ihre Aufmerksamkeit diesem Büchlein gegenüber. Empfehlen Sie es einfach weiter.
Thomas Staufenbiel
Die Autoren

Gunda Jaron




















Bisher sind mehrere Lyrik- und Prosatexte aus ihrer Feder in den folgenden Bänden erschienen:


Jahrbuch 2008 der Frankfurter Bibliothek

"Oliven mattes Grün"
Engelsdorfer Verlag
ISBN 978-3-86901-013-7

"Halbschattengewächse auf Mischboden"
DoplPack-Verlag
ISBN 978-3-941570-00-9


Ein Netz von Wegen“
Engelsdorfer Verlag
ISBN-13: 978-3-86901-048-9

Lob der Jadeflöte“
quartus-Verlag
ISBN 978-3-936455-87-8

Ausgewählte Werke XVI“
Bibliothek deutschsprachiger Gedichte
2013

Liebe mbH“
Lyrisches - dreistimmig
Verlag neun9zig
ISBN 978-3-944907-00-0

Im Internet zu finden unter: gunda.mystorys.de
Thomas Staufenbiel






















Bisherige Veröffentlichungen:

Gedicht und Gesellschaft 2010
der Frankfurter Bibliothek "Das neue Gedicht"


Gedicht im
Gedichtekarussell Nr. 6, „Zwischen den Jahren“


Eigener Lyrikband
Meine Seelen Pest“
Edition Trianon - August von Goethe Literaturverlag
ISBN 978-3-8372-0675-3


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Thomas Staufenbiel

Frühlingssympathie

Wenn der letzte Schnee getaut, Eis und raue Winde sich gen Norden verzogen haben, beginnt die Zeit des Aufblühens und der Liebe.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche ... ließ Meister Goethe seinen Faust ausrufen, als dieser, engen Wänden entflohen, auf den Hügeln vor dem Dorf weilte.
Auch ich sehne mich nach langen kalten Winternächten hinaus in die junge Natur und eile an lauen Frühlingstagen aus dunklen Zimmern in die verheißungsvolle Sonne. Meine unterdrückten Gefühle bahnen sich mit Macht ihren Weg an die Oberfläche, genau wie das frische Grün aus der Erde bricht. Die Bäume bedecken ihre Kahlheit mit frischen Blättern und öffnen der wärmenden Sonne ihre Blüten.
Oh, wie ist mir wohlig ums Herz, wenn ich an dich denke. Wir treffen uns draußen im Garten. Ich sehe dich bereits von weitem und es scheint, als würdest du mich mit offenen Armen empfangen. Ich setze mich nahe zu dir, atme mit dir gemein-sam den Frühling.

Von unserem Plätzchen können wir weit über den Gartenzaun hinausschauen und unten am Fluss ein lustiges Treiben beobachten. Doch mehr als dafür habe ich Augen für dich, denn deine Schönheit raubt mir fast den Atem. Ich spüre auch deine Erregung, erahne, was du fühlst, wenn dir die Sonnenstrahlen unter dein leuchtend grünes Kleid fahren und deine Knospen aufrichten. Fast ist mir, als spürte ich dein pulsierendes Herz. Ich berühre deinen schlanken Körper und meine Hände tasten unter dein Kleid, doch da kitzelst du mich mit einer frischen Rute. Unwillkürlich muss ich lachen, setze mich wieder in deinen Schatten und schließe die Augen. ... 

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