Die Sache mit der
Perspektive: Verdrehtes
Gunda
Jaron
Hotline
„Alfmann
Computer-Reparaturdienst, Service und Support, guten Abend, mein Name
ist Fröhlein, was kann ich für Sie tun?“
Kristina
würgte einen Rest Käsebrötchen hinunter. Da hing sie nun seit
einer gefühlten Stunde in der Warteschleife und hatte sich schon
darauf eingestellt, mit der Melodie von „I am sailing“ im Ohr den
Rest des Tages zu verbringen, als Rod Stewart unvermittelt von Frau
Fröhlein unterbrochen wurde, die ihren Spruch hervorsprudelte, als
täte sie nichts lieber, als dem Anrufer zu Diensten zu sein.
„Guten
Abend, meine PC-Tastatur hat ...“
„Einen
Moment bitte, ich verbinde weiter ...“
I
am sailing ...
Eigentlich
logisch, dass der Tag so aufhören würde, wie er angefangen hatte.
„Semmel?!“
„Ach“,
antwortete Kristina, das ist ja sehr nett von Ihnen, aber eigentlich
habe ich gerade gegessen und meine Tastatur ...“
„Mein
Name ist Semmel“, betonte der Mann am anderen Ende der Leitung
leicht indigniert. „Was kann ich denn für Sie und Ihre Tastatur
tun?“
„Nun
ja, es ist mir ein bisschen peinlich, aber ... Wissen Sie, heute war
wieder one of these days!“
„Heute
war was?“, fragte Herr Semmel entgeistert.
„Na,
one of these days eben. Sie wissen schon, einer dieser Tage,
an denen man morgens die Augen aufschlägt und sofort weiß: Dieser
Tag wird ein guter. ER – WIRD – MEIN – TAG, verstehen Sie?“
Sie konnte förmlich hören, wie Herr Semmel am anderen Ende der
Leitung zu lächeln begann.
„Ja,
solche Tage kenne ich“, bestätigte er. „Was hat das ...“
„Nun“,
fuhr Kristina unbeirrt fort, „dann wissen Sie ja auch, dass man
keine halbe Stunde später solche so hoffnungsvoll begonnenen Tage in
einen Sack stopfen und für die Müllabfuhr an den Straßenrand
stellen möchte, nicht wahr? Blöderweise ist aber dann immer gerade
Mittwoch – und der Müll wird montags abgeholt ...“
Herr
Semmel schluckte stumm.
„Und
was tun solche Tage dann?“, wollte Kristina wissen, ohne eine
Antwort auf ihre Frage abzuwarten. Herr Semmel hatte sich auch gar
nicht erst die Mühe gemacht, den Mund zu öffnen. „Ich sag's
Ihnen: Sie hämmern so lange mit ihren fiesen kleinen, spitzen
Sekunden und Minuten auf Ihren Nerven herum, bis sie es geschafft
haben, Ihnen auch noch den Rest der Woche zu versauen. Fluchtversuch
zwecklos. Und weil wir das wissen, seufzen wir nur abgrundtief und
verlassen uns darauf, dass auch auf diesen Morgen irgendwann ein
Abend folgen wird, nicht wahr?“
„Ja,
sicher“, warf Herr Semmel schnell in die zwangsweise entstandene
Pause – irgendwann musste schließlich auch Kristina einmal Luft
holen – ein. „Aber was ...“
Kristina
war nicht zu stoppen:
„Sie
haben es erraten: So ein Tag war heute. Es begann mit meiner
Lieblingskonfitüre. Oder besser: Es begann eben nicht damit, weil
der Blick ins Marmeladenglas gähnendes Nichts offenbarte. Das
Ärgerlichste daran ist, dass ich selbst gestern nach dem Frühstück
das leere Glas zugeschraubt und wieder in den Kühlschrank gestellt
hatte. Schon frustrierend, wenn man niemand anderem die Schuld dafür
in die Schuhe schieben kann, nicht? Das ist so ähnlich, wie wenn man
sich beim Kämmen fürchterlich ziept und keiner da ist, dem man eine
Ohrfeige dafür geben kann, verstehen Sie?“ Tiefer Atemzug.
Chance
für Herrn Semmel, konsterniert einzuwerfen, nein das verstünde er
nicht, er trüge seit mehreren Jahren eine Igelfrisur.
„So?
Das tut mir leid. Der Zeitungszusteller – übrigens unser Nachbar,
wissen Sie, weshalb man doch annehmen sollte, dass er gerne die
Chance nutzen würde, sich gleich am Anfang seiner Tour des ersten
Exemplares des Tageblattes zu entledigen, indem er es in unsere
Zeitungsrolle steckt, was er aber nicht tut, im Gegenteil: Wir
bekommen grundsätzlich das letzte, das, das auf dem Gepäckträger
seines Fahrrads ganz unten liegt. Das dient dann als Fänger für das
hochspritzende Pfützenwasser, weshalb es speziell in dieser
Jahreszeit regelmäßig halb durchnässt bei uns landet ... Wo war
ich? Ach ja: Also dieser Zeitungszusteller hat mal wieder ein solches
Feuchtexemplar so kunstvoll in unsere Röhre gedrückt, dass die
beiden ersten Seiten sich fächerförmig aufgeschoben haben und nur
noch nach dem Einsatz eines Bügeleisens lesbar sind. Ha, dieses Mal
gab es wenigstens jemanden, auf den ich sauer sein konnte. Sind Sie
noch dran?“
Herr
Semmel hatte sich zwischenzeitlich eine Tasse Cappucino geholt, ein
Schild mit der Aufschrift „Bitte nicht stören“ an seine Bürotür
gehängt, die Füße auf den Schreib-tisch und den Kopf auf die
Rückenlehne seines Drehstuhls gelegt.
„Ja,
natürlich. Erzählen Sie ruhig weiter ...“
„Nun
ja, um mich für den mangels Himbeermarmelade und Zeitung entgangenen
Frühstücksgenuss zu entschädigen, fuhr ich zum Einkaufen. Der
Marathon durch die örtliche Einkaufsstraße ist mir immer ein Quell
der Freude, denn wo erfährt man schneller von den härtesten
Schicksalsschlägen im Leben der ortsansässigen Möchtegernprominenz
als in der Schlange vor der Supermarktkasse, stimmt's? Und wo kann
man ausgiebiger eintauchen in den wabernden Dunst der Gerüchteküche
als beim Bäcker an der Ecke. Abgründe tun sich da auf, sage ich
Ihnen.“
Herr
Semmel wagte keinen Einwand. Er hatte mit dem heutigen Tag bereits
abgeschlossen.
„...
und dann schnappt mir die Dünkel auch noch das letzte Päckchen
Kaffee vor der Nase weg, also den aus dem Angebot. Ist doch eine
Frechheit, oder was meinen Sie?“, setzte Kristina ihren Bericht
fort. „An der Kasse schiebt mir so ein Typ mit Rastalocken den
Wagen in die Hacken, ohne sich zu entschuldigen, und der Dame vor mir
hätte ich gerne den Einkauf eines Stückchens Seife empfohlen, aber
egal. Jedenfalls gucke ich in meine Handtasche und mein Portemonnaie
ist weg. Einfach weg, sage ich Ihnen. Hatte meinem Sohn fünf Euro
Kopiergeld gegeben und vergessen, die Börse wieder einzustecken. Ich
dachte immer, nichts könnte mich mehr zum Erröten bringen, aber
wenn gefühlte zwanzig Augenpaare einem Löcher in den Rücken
brennen ... Hochnotpeinlich, sage ich Ihnen. Haben Sie auch Kinder,
Herr Brötchen?“
„Semmel.
Mein Name ist Semmel!“
„Ach
ja? Das tut mir leid. Wissen Sie, der Zahnarztbesuch an sich zählt
ja in der Regel schon nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen,
obwohl ich zugeben muss, dass die Praxis meines Vertrauens mit
einigen recht ansehnlichen Exemplaren der Gattung Dr. dent.
ausgestattet ist. Aber ein Vorsorgetermin, der damit beginnt, dass
ich auf dem Stuhl liegend feststelle, dass ich morgens im Halbdunkel
meine Jeans übergestreift habe, ohne die vom Vortag noch darin
hängende Perlonstrumpfhose zu bemerken, deren Fuß mir wohl schon
den ganzen Tag über unten aus dem Hosenbein herausgebaumelt haben
muss, wie peinlich, darin gipfelt, dass der neue Arzt eine Ärztin
ist und damit endet, dass diese Ärztin einem eröffnet, der
H-2-oben-links oder wie das heißt sei kariesgefährdet – wieso
überhaupt „gefährdet“? - Tja, ein solcher Termin ist dann doch
das Sahnehäubchen auf dem Käsekuchen des Tages, finden Sie nicht?“
Herr
Semmel seufzte ergeben.
„Ja,
natürlich, Sie haben vollkommen Recht. Aber was ist nun mit Ihrer
Tastatur?
„Meiner
Tastatur?“, fragte Kristina irritiert. „Ach so, ja. Also, als ich
vorhin nach Hause kam und auch noch die schon vergessen geglaubte
Rechnung des Heizungsmonteurs im Briefkasten fand und mein PC
gefühlte fünf Minuten zum Hochladen brauchte, das sei aber nur am
Rande erwähnt, da dachte ich doch wirklich, es könne nicht mehr
viel passieren, inzwischen war ja schon fast Abend, also jedenfalls
war es nach fünf, so dass ich mir ein Glas Rotwein auf diesen Tag
gönnte. Und das stellte ich neben meine Tastatur. Und dann klingelte
das Telefon und Beate war dran, also meine beste Freundin, und die
erzählte mir doch tatsächlich, dass ihr Friseur ... Hallo? Herr
Semmel?“
I
am sailing ...
„Alfmann
Computer-Reparaturdienst, Service und Support. Leider rufen Sie
außerhalb unserer Bürozeiten an. Wir sind für Sie da von montags
bis freitags in der Zeit von 9.00 bis ...“
Gunda
Jaron
Brand(t)neu
„Was
kann ich für Sie tun – Lady?“
Die
Frau verbiss sich ein Grinsen und unterdrückte den Impuls, „Finden
Sie einen Optiker, der günstiger ist als Fielmann“ zu antworten.
Schließlich trug sie weder ein knallenges rotes Kostüm noch eine
Sonnenbrille, und der junge Mann, der sich so redlich mühte, hinter
seinem riesigen Schreibtisch den coolen Jerry Cotton zu geben, hatte
mit nichts weniger Ähnlichkeit als dem markigen Typen aus der
Werbung. Eigentlich wirkte er eher wie eine Otto-Waalkes-Kopie mit
seinen hellblonden Strubbelhaaren. Die Frau schätzte ihn auf
höchstens 25.
„Brandt,
Katharina Brandt“, stellte sie sich vor, verzichtete aber darauf
hinzuzufügen, sie tränke ihren Martini nur geschüttelt, nicht
gerührt – oder war es umgekehrt? Egal. Sie wollte die gerade erst
begonnene Geschäftsbeziehung nicht gleich dadurch negativ
beeinflussen, dass der junge Mann glaubte, sie nähme ihn nicht
ernst.
Die
Frau lächelte. „Wir haben telefoniert“, fügte sie hinzu.
„Oh!“
Wie ein geölter Blitz kam der junge Mann hinter seinem Schreibtisch
hervor. Eine helle Röte überzog sein Gesicht und hätte ihm
durchaus etwas Charmantes verleihen können, wenn dieser Eindruck
nicht gleich wieder von dem leicht schmuddeligen Poloshirt zunichte
gemacht worden wäre. Katharina zuckte ganz leicht mit ihrer linken
Augenbraue. An seinem Outfit würde der Knabe ganz sicher noch
arbeiten müssen, wollte er auf seine Kundschaft seriös wirken. Da
reichte es einfach nicht, ein Shirt mit Krokodilslogo zu tragen.
„Markus,
Holger“, antwortete er. „Also Holger vorne und Markus hinten.
Verzeihen Sie. Bitte, setzen Sie sich doch!“ Mit einer Handbewegung
fegte er einige Computerzeitschriften von dem offensichtlich als
Zwischenlager genutzten Besucher-stuhl. „Darf ich Ihnen etwas zu
trinken anbieten?“
Katharina
schüttelte dankend den Kopf, blieb stehen und sah sich um.
Keine
Ahnung, wo die Zeitschriften sonst hätten gelagert werden sollen.
Deckenhohe Regale, in denen Kisten undefinierbaren Inhalts neben
einer Unmenge von Büchern und Ordnern unterschiedlicher Größe
gestapelt waren, nahmen zwei Wände des Raumes vollständig ein.
Pullover und offensichtlich ungewaschene Jeans quollen wild
durcheinander aus einem der Fächer. Berge von Computerausdrucken
drohten von den Brettern zu rutschen. Die beiden PC-Monitore auf dem
Schreibtisch waren umgeben von dünnen Aktenmappen mit
verschiedenfarbig beschrifteten Aufklebern. Die Tastatur und –
Katharina schmunzelte innerlich – eine Lupe verschwanden fast unter
einem Wust an Papier, und etliche Kabel sowie einige Spinnweben
verbanden technische Gerätschaften miteinander, über deren
Bedeutung Katharina nur rätseln konnte. An der Wand hinter dem
Schreibtisch war ein Whiteboard angebracht. Mindestens fünfzig Farb-
und Schwarz/Weiß-Fotos waren mit Magnet-haltern darauf befestigt,
verbunden durch ein Netzwerk von Pfeilen und hastig hingekritzelten
Notizen. Über einen Mangel an Kundschaft konnte sich
Nachwuchsermittler Holger Markus offensichtlich nicht beklagen.
Vorsichtig
ließ die Frau ihren Blick weiterwandern, während der junge Mann
geduldig wartete.
In
einer Zimmerecke lehnte ein offener Rucksack mit dem Logo einer
exklusiven Ledermarke, in dem eine teure Fotoausrüstung verstaut zu
sein schien. Ein Teleobjektiv von beeindruckender Größe ragte
daraus hervor. Ein schmaler Schrank, ein ebenso schmales Bett und ein
Kühlschrank, auf dem eine Einplatten-Kochstelle gemeinsam mit einer
benutzten Teetasse und einem angebissenen Apfel ein trauriges
Stillleben bildeten, vervollständigten die Einrichtung. Einige
Kakteen auf der Fensterbank fristeten ein einsames Dasein zwischen
aufgerissenen Chipstüten. Zögerlich wanderte Katharinas Blick
weiter zu dem überfüllten Mülleimer und von da in Richtung
Teppich, nur um sich rasch von dort schaudernd wieder ab- und erneut
dem jungen Mann zuzuwenden.
Sie
setzte sich und auch Holger nahm wieder seinen Platz hinter dem
Schreibtisch ein, dieses Mal aber in einer der Situation weitaus
angemesseneren Position, als Katharina ihn vorhin angetroffen hatte.
Schließlich ging es hier ums Geschäft.
„Ich
gehe recht in der Annahme, dass dieses Zimmer hier“, sie umfasste
mit einer entsprechenden Handbewegung den gesamten Raum, „sowohl
als Büro als auch als Wohnung dient!?“
„So
ist es“, konstatierte Holger Markus. „Das Unternehmen läuft
allerdings nicht schlecht, und so hoffe ich, mich in abseh-barer Zeit
wohnlich verändern und meine Kundschaft dann auch in einem etwas
respektierlicheren Ambiente empfangen zu können, aber bis es soweit
ist, würde ich mich gern auf Sie verlassen. Ich baue allerdings
darauf, dass sich zwischen uns eine so vertrauensvolle Atmosphäre
entwickelt, dass Sie mir auch nach einem eventuellen Umzug eine
verlässliche Stütze bleiben werden. Sie verstehen sicher, wie
wichtig in meinem Gewerbe die Aufrichtigkeit, Gewissenhaftigkeit und
Ver-schwiegenheit von Mitarbeitern ist, nicht wahr?“
Katharina
schwieg beeindruckt. Hinter dem ganzen Jerry-Cotton-Gehabe verbarg
sich offenbar ein intelligentes Kerlchen mit einem helleren Köpfchen,
als der erste Anschein hatte vermuten lassen. Taktik? Und rhetorisch
gewandt war ihr Gegenüber auch noch. Nichts stieß Katharina mehr
ab, als wenn jemand nicht in der Lage war, sich korrekt
auszu-drücken. Ja, es würde Spaß machen, mit Holger Markus
zusammenzuarbeiten. Sie nickte bestätigend.
„Es
ist heutzutage gar nicht so einfach, adäquates Personal zu finden“,
fuhr der Mann fort. „Nun, Sie haben sich umgesehen und wissen, was
auf Sie zukommt. Was meinen Sie, kommen wir ins Geschäft?“
Katharina
strich auffällig mit dem Mittelfinger über die Schreibtischkante
und blies anschließend den Staub von der Fingerkuppe. „Ich denke
schon. Und auch die Konditionen erscheinen mir mehr als fair. Wann
soll ich anfangen?“
„Am
liebsten sofort“, lächelte Holger. „Den Staubsauger und einen
Wischeimer finden Sie in dem Schrank im Treppenhaus und Lappen und
Putzmittel in dem Karton da unten. Für die Erledigung der Wäsche
zahle ich natürlich extra.“ Er streckte Katharina seine Rechte
über dem Schreibtisch entgegen. „Dann auf gute Zusammenarbeit.“
Gunda
Jaron
Cantaloupe
Nicht
schon wieder ...
Cantaloupe
stöhnt innerlich. Die Hand, die sich prüfend ihrer wohlgeformten
Rundung nähert, ist groß und dunkel behaart.
Oh,
Mann, jetzt werde ich wieder von allen Seiten auf diese fiese Art
betatscht werden ...
Oder
etwa doch nicht? Überrascht entspannt sich Cantaloupe. Die Hand hat
sich fast zärtlich über ihre beige-braune Wölbung gelegt. Ganz
leicht streicht der Daumen über ihre empfindlichste Stelle und
drückt sie sacht. Na, das ist doch mal eine angenehme Berührung.
Nicht so wie gestern, als dürre Krallen sie befingert und scheußlich
spitze Nägel sich in ihre zarte Knospe gebohrt haben. „Noch
unreif“, hat eine missbilligende Stimme gesagt und Cantaloupe
gleichgültig wieder zu den anderen Melonen in ihr Papierbett
zurückgelegt.
Igitt,
was ist das denn?
Kurze,
stachelige Borsten, die aus zwei dunklen Löchern hervorlugen,
kitzeln Cantaloupe. Ach ja, „olfaktorische Prü-fung“ hat der
Mann mit dem weißen Kittel das gestern genannt. Na, offensichtlich
hat sie die bestanden, denn die Hand legt Cantaloupe vorsichtig in
einen chromglänzenden Einkaufswagen. Gespannt sieht sie sich um.
Überall Gitter-stäbe, durch die man hindurchschauen kann.
Aufgeregt, aber auch ein bisschen wehmütig wirft sie einen Blick auf
ihre Gefährten der letzten Tage: Auf Fragaria, dieses freche, rote
Früchtchen, Chiquita, so jung und schon so krumm, und Galia, die ihr
so ähnlich sieht mit ihrer gelb-grünen, netzartig gemaserten
Schale.
Aua
...
Rumpelnd
hat sich ihr Gefährt in Bewegung gesetzt und Cantaloupe kugelt ein
wenig hin und her.
Hey,
was passiert jetzt?
Die
behaarte Hand taucht erneut auf und stellt etwas Hartes neben
Cantaloupe. „Veuve Cliqu ...“ Mehr kann sie nicht entziffern.
Klingt französisch. Bewundernd schaut sie auf das orangefarbene
Etikett, welches das elegante Erscheinungsbild der dunkelgrünen
Figur aufs Trefflichste unterstreicht. Stil hat er ja, der Typ mit
dem Handrücken- und Nasenlochbewuchs.
Unauffällig
kullert Cantaloupe etwas näher an den Dunkelgrün-Durchsichtigen
heran. Schüchtern stupst sie ihn an. Keine Reaktion. Nicht das
kleinste Bläschen lässt er grüßend an die Oberfläche steigen.
Fast scheint es sogar, als recke er seinen goldbehelmten Kopf noch
etwas höher. Eingebildeter Fatzke. Franzose eben.
Neugierig
späht Cantaloupe durch die Gitterstäbe. Nicht doch! Tu mir das
nicht an! Bereits ins Grünliche changierende, rötlichbraune
Scheiben mit breitem Fettrand landen unsanft neben ihr. Igitt, wie
unappetitlich. Erleichtert beobachtet Cantaloupe, wie eine schmale,
pfirsichduftende Hand die plastikummantelten Heinis wieder ins Regal
zurückbefördert. Und tschüss ...
Haaalt!
Tatsächlich, der Behaarte scheint sie gehört zu haben. Fasziniert
blickt Cantaloupe auf die hinter Glasscheiben appetitlich
angerichteten Köstlichkeiten. Jaaa, das ist der Richtige. Dieser
rosarote, von einer feinen weißen Maserung durchzogene, hauchdünn
aufgeschnittene Prosciutto di Parma, der sich mit ihr, Cantaloupe,
bald geschmackvoll vereinen wird. So hat es jedenfalls die Bauersfrau
damals, nach der Ernte, vorhergesagt. Na, nicht so geizig, ein paar
mehr dieser würzig nach dem Apennin duftenden Scheiben dürfen es
ruhig sein. Ach ja, Italien ... Etwas wie Heimweh erwacht in
Cantaloupe.
Der
Wagen setzt sich wieder in Bewegung. Ab und an stoppt er und neue,
interessante Dinge gesellen sich zu Cantaloupe. Das gleichmäßige
Geschaukel lässt sie in einen wohligen Halbschlaf versinken, aus dem
sie erst wieder erwacht, als sie zusammen mit allen anderen
kulinarischen Leckereien auf ein Laufband gelegt, an einem
rotblitzenden Piepding vorbei-gezogen und schließlich in einer
bunten Tüte verstaut wird. Bisschen eng und ungemütlich.
Hey,
schau mich nicht so abschätzend an. Wer bist du überhaupt? Linda?
Nie gehört. Festkochend und goldgelb, aha.
Leises
Brummen wiegt Cantaloupe aufs Neue in süßen Schlummer, so dass sie
ein bisschen aufschreckt, als sich Camembert an sie schmiegt. Sein
zarter, weißer Flaum ist durch die glänzende Folie gerade noch zu
erahnen. Na, dieser Franzose gefällt ihr ...
Zarte
Geigentöne erfüllen den Raum, scheinen geradezu anmutig in der Luft
zu schweben. Der Schein Dutzender Kerzen taucht den Tisch und die
beiden daran Sitzenden in ein warmes, malerisches Licht. Edel
geschliffene Kristallgläser funkeln mit silbernem Besteck um die
Wette. Dem Diamant-ring, der fast verschämt aus dem geöffneten,
dunkelblau ausgeschlagenen Schmuckkästchen hervorblitzt, können sie
jedoch nicht das Wasser reichen.
Hingerissen
nimmt Cantaloupe – jetzt nur noch lose auf ihrer dekorativ
gemusterten Schale, dafür aber in enger Umarmung mit dem Prosciutto
angerichtet – die Szenerie ringsherum in sich auf.
Mein
GOTT! Ist das ROMANTISCH!
Veuve
ist auch schon da. Ha, ohne seinen goldgelben Helm sieht er nur noch
halb so vornehm aus. Mit lautem Plopp hat sich auch sein Korken schon
verabschiedet. Sehr weltmännisch hat es ausgesehen, als die großen
Hände die Flasche leicht schräg gehalten, den Verschluss mit
gezieltem Daumendruck aus dem Hals befördert und dann die schäumende
Flüssigkeit in die hohen Champagnerflöten gegossen haben. Etwas
Kohlensäure ist dabei zischend entwichen und die beiden dunklen
Löcher mit den borstigen Stoppeln darin haben angefangen zu beben.
Haaatschi ...
Cantaloupe
grinst verschmitzt. Jetzt kann Veuve die feinen Bläschen nicht mehr
am Aufsteigen hindern.
Ein
helles Klingen lässt sie aufhorchen. Die Behaarte und die
Pfirsichduftende haben jede eines der funkelnden Gläser erhoben und
deren Ränder leicht zusammengestoßen.
Na
denn, adieu, Franzose ...
Wann
wird er denn nun endlich kommen, der ersehnte Moment? Da, eines der
blankpolierten Messer nähert sich von rechts, die Zinken einer Gabel
von links.
„Prosciutto
...“, flüstert Cantaloupe leise, „nun geht’s los ...“ Und
ihr scheint es, als schmiege sich Prosciutto für einen kurzen Moment
noch ein wenig fester an sie, bevor sie beide mit einem scharfen
Schnitt durchteilt, von vier Zinken durchstochen und in eine dunkle,
schwach nach Veuve riechende Höhle geschoben werden.
Cantaloupe
lächelt, obwohl ihr schon ein wenig mulmig zumute ist. Gleich werden
sich Prosciutto und sie auf eine interessante Reise begeben, auf der
sie auch dem Champagner wiederbegegnen werden. Gemeinsam mit ihm und
Camembert, der ihnen später folgen wird, werden sie vielleicht über
Linda schmunzeln, die so stolz auf ihre goldgelbe Färbung ist,
Roastbeef darüber hinwegtrösten, dass es einen Hauch zu lange
gegart worden ist, und sich alle zusammen über das nachdrängelnde
Tiramisu beschweren.
Autsch,
ganz so hat sich Cantaloupe das aber nicht vorgestellt. Kräftige
weiße Zähne haben begonnen, ihr saftiges orangefarbenes
Fruchtfleisch mit dem Zartrosa des würzigen Prosciutto zu vermengen.
Erst erschreckt sie ein wenig, aber dann spürt Cantaloupe, wie ihre
Verbindung mit Prosciutto immer enger und intensiver wird.
Sie
ist schon gespannt, wann und in welcher Form sie einst wieder das
Tageslicht erblicken wird ...
Gunda
Jaron
Gläserne
Perspektive
Das
ist sie wieder, diese Frau.
Fast
täglich kommt sie auf dem Weg zur Arbeit hier vorbei.
Manchmal,
wenn es regnet, schenkt sie mir kaum einen flüchtigen Blick, hastet
nur eilig vorüber.
Und
einmal, wahrscheinlich glaubte sie, dass niemand es bemerkt, hat sie
sogar den Kopf von mir abgewandt. Tränenspuren müssen auf den
Wangen zu sehen gewesen sein, denn noch am nächsten Tag sah sie
traurig aus.
Meist
aber, besonders an hellen Tagen wie diesem, bleibt sie direkt vor mir
stehen. Lächelt freundlich, streicht sich ordnend mit der Hand über
das Haar, glättet eine Falte ihrer Bluse oder rückt ihre große
Sonnenbrille zurecht. Ab und zu zückt sie sogar einen
chromglänzenden Stift aus ihrer Tasche, um verstohlen das Rot auf
ihren vollen Lippen aufzufrischen.
Das
Wort allerdings richtet sie nie an mich, da kann ich noch so sehr
glänzen.
Hin
und wieder wird sie von einer Freundin begleitet. Dann reden beide
miteinander, als sei ich gar nicht da, dennoch wirft mir jede von
ihnen einen heimlichen prüfenden Blick zu und ich glaube, ein
verstecktes Zwinkern in ihren Augenwinkeln entdecken zu können.
Ein
fremder Beobachter würde sich vermutlich wundern, was junge Frauen
an mir so fasziniert, ist doch das, was ich ihnen aus seiner Sicht
offenbare, nicht wirklich dazu angetan, ein Lächeln auf ihre
Gesichter zu zaubern. Ich aber ahne den Grund.
Die
Wand hinter mir ist mit einem schwarzen Baumwollstoff bezogen und die
Regale davor ganz mit dunklem Samt ausgeschlagen. Die wenigen
Exponate darauf, Porzellan-gefäße mit Deckel, steife Zylinder und
Fotos von Holzkisten, dürften kaum als Blickfang für die jungen
Frauen dienen, sie aber auch nicht weiter stören, wenn sie in mir
ihr Erscheinungsbild einer letzten kurzen Prüfung unterziehen, bevor
sie in die Straßenbahn steigen oder in einem der umliegenden
Bürohäuser verschwinden.
Schade,
das wird sich jetzt wohl ändern. Farbeimer und eine Leiter stehen
bereit, ab morgen wird die Wand hinter mir in leuchtendem Gelb
erstrahlen. Die Regale mit den Urnen werden lebensgroßen Puppen
weichen und auf meiner Vorderseite bunte Buchstaben prangen. Bald
werden helle Sommerkleider, farbige Blusen und moderne Jacken in der
Auslage die Kunden in den Laden locken.
Sicher,
die Frau wird auch weiterhin kommen, aber ihr Blick wird durch mich
hindurchwandern, als sei ich gar nicht vorhanden, denn nicht ich
werde mehr der Grund für ihr Verweilen sein, sondern das heimliche
Wünschen und Sehnen nach jenem, was dann hinter mir ausgestellt ist
und die Herzen junger Damen höher schlagen lässt.
Vielleicht
aber wird sie manchmal einen Augenblick wehmütig daran zurückdenken,
wie sie einst vor mir stehen blieb, um sich kritisch zu betrachten
oder sich einfach nur ihres eigenen Anblicks zu erfreuen.
Ob
sie in all den Jahren jemals bemerkt hat, dass sie ihr Lächeln der
Schaufensterscheibe eines Bestattungsunter-nehmens schenkte?
Thomas
Staufenbiel
VoneinemderauszogRechteszutun
Das
war ein Schuss.
Ich
bin vollständig aufgelöst, durcheinander, versuche mich zu sammeln
und schnappe aufgeregt nach Luft.
Also
ein Schuss ist gefallen. Kein Knall der Sorte Feuerwerkskörper,
einer der tödlichen Art, das weiß ich sofort. Hier in der
beschaulichen Kleinstadt, in der es außer den wenigen Straßenzügen
mit ihren nicht gerade einladenden Fassaden, den heruntergekommenen
Läden und der verruchten Kneipe nun wirklich nichts
Außergewöhnliches gibt. Hier, wo sich direkt hinter dem
verblichenen Ortsaus-gangsschild Fuchs und Hase
Gute-Nacht-Geschichten erzählen und sich einsame Wölfe des Nachts
zu Rudeln zusammenschließen, nur um ihr ewiges Klagelied gen Himmel
zu senden. Hier also fällt ein Schuss.
Gerade
bin ich – vom Bäcker Schlachtmann unterwegs zum Metzger Krümel –
um die Ecke gebogen, da blicke ich ungläubig auf die Szenerie und
erlebe den Alptraum meines Lebens. Direkt vor mir passiert es. Ein
maskierter, dunkler Geselle läuft schnellen Schrittes mit gezogener
Waffe auf einen älteren Mann zu, bedroht ihn kurz mit Pistole und
barschen Worten. Dann fällt der Schuss und ich erschrecke fast zu
Tode.
Nun
verkörpere ich wahrlich nicht die Rolle eines Helden von jener
Sorte, deren Foto in irgendeiner Zeitung neben der Titelzeile
„Aufopferungsvoller Bürger rettet Nachbarn aus ehelichem Streit
und verhindert so tödliches Massaker“ oder so ähnlich erscheint.
Doch was ich hier sehe, muss auch mich zutiefst schocken und den
Samariter gleichermaßen in mir wachrufen wie den Rächer. Einige der
wenigen Passanten bleiben wie angewurzelt in der Nähe stehen, zeigen
mit Fingern auf die unwirkliche Kulisse, scheinen eher belustigt als
beunruhigt zu sein, dass ein alter Mann mit einem sauberen Schuss
niedergestreckt worden ist. Andere rennen hektisch beiseite und rufen
laut nach der Polizei. Endlich mal was los in diesem Kuhdorf.
Ich
schaue mich um. Wo ist er? Dort drüben hinter den Mülltonnen hat
sich der Ganove versteckt. Mir bleibt keine Zeit zum Nachdenken.
Bevor meine Chance verrinnt, renne ich quer über die Straße, packe
ihn am Kragen und schleife den Übeltäter hinter den Tonnen hervor.
Dieser sieht sich nun von mir wild und laut schimpfend verprügelt.
Ich bin außer mir vor Wut und drücke den Gauner heftig zu Boden.
Dass ich ihn dabei aufs Schmerzlichste verletze, ist mir egal, denn
er hat Unrecht getan.
Plötzlich
aufkommendes Geschrei bemerke ich kaum. Eine große Menge von
aufgeregten Menschen hat sich um uns versammelt.
Kräftige
Burschen zerren mich von dem Übeltäter fort, beschimpfen nun mich
und drehen mir rüde die Arme auf den Rücken. Erstaunt blicke ich
auf zwei blau Uniformierte, die mir schneller Handschellen anlegen,
als Max, unser Regisseur, „Schnitt“ rufen kann.
„Schnitt,
Schnitt, Schnitt! Verdammt nochmal. Solche Volltrottel.
Dorfpolizisten! Was fällt denen ein, unseren Haupt-darsteller
festzunehmen? Was ist das hier bloß für ein Kaff. Ich hab gleich
gesagt, lass uns den Krimi in Berlin drehen ...“
Gunda
Jaron
Des
einen Freud, des anderen auch
Ihr
Mann ist Heimwerker, stimmt's? Mir können Sie nichts vormachen, ich
kenne die Anzeichen. Sie zum Beispiel haben diesen leicht unsteten
Blick aus rotgeränderten Augen, der mir sagt, dass Sie heute auf der
Couch übernachtet haben. Ihr Gatte hat das Ehebett zerlegt, um dem
nächtlichen Gequietsche auf die Spur zu kommen, und jetzt will er
bei der Gelegenheit Schubladen in die Seitenteile einbauen und das
Schlafzimmer neu tapezieren? Ins Schwarze getroffen? Dachte ich mir.
Oder
schauen Sie, die Dame am Nachbartisch. Die mit den weißen Spritzern
auf den Schuhen und den Resten von Binderfarbe unter den
Fingernägeln. Die Sprösslinge sind aus dem Haus, ihr Gemahl nutzt
die Gunst der Stunde, nicht nur im Kelleraufgang die letzten Spuren
frühkindlicher Zeichenkünste zu tilgen, sondern gleich das ganze
Treppen-haus zu streichen, und sie darf anschließend die Farbreste
vom Boden kratzen.
Sehen
Sie die Graubehelmte, die gerade hereinkommt? Wetten, dass das nicht
ihre natürliche Haarfarbe ist? Kommen Sie, hier ist noch ein Platz,
setzen Sie sich zu uns. Fliesen, nicht wahr? Wegen eines Risses aus
dem Mörtelbett herausgemeißelt und jetzt der Neuverlegung harrend?
Das kann dauern, meine Liebe, ich spreche da aus Erfahrung. Erst
müssen noch die restlichen Bodenkacheln die Fingerspitzen-Klopfprobe
bestehen. Und wehe, sie antworten mit einem hohl-dumpfen „Ploch“,
dann wird die Baustelle umgehend erweitert. Nein, nein, die staubigen
Zeiten sind noch lange nicht beendet, glauben Sie mir. Vermutlich
tragen Ihre Gar-dinen Trauerflor und Ihr Wellensittich leidet an
chronischem Reizhusten?
Hallo!
Zwei Gläschen Sekt, einen Rotwein und dreimal das Damenmenü Nummer
zwei, bitte!
Und
gucken Sie mal aus dem Fenster. Die Frau, die gerade ihren Partner
hier abgesetzt hat. Die in dem blauen Kleinwagen mit dem Kind und dem
riesigen Schwimmreifen auf dem Rücksitz. Die fährt jetzt
fremdbaden. Vermutlich ist zu Hause der Haupthahn zugedreht, da ihr
Angebeteter nicht nur den verstopften Badewannen-Siphon reinigt,
sondern gleich eine neue Dusche einbaut, weil er gerade so schön
dabei ist ...
Ich?
Ach, ich verbringe jeden Samstagmittag in diesem Lokal. Wissen Sie,
früher hatte ich den Verdacht, mein Mann habe eine heimliche
Geliebte, weil er jedes Wochenende plötzlich verschwand, Stunden
später mit leuchtenden Augen zurückkehrte und sich dann wortlos in
seinen Bastelkeller zurückzog, aber ein Rendezvous im Blaumann und
mit Sicherheitsschuhen? Ich bitte Sie! Nicht wirklich! Na, und eines
Tages bat er mich dann mal, ihn zu begleiten, und inzwischen weiß
ich diese Samstage wirklich zu schätzen. Hat was für sich, denn
wenn der Küchenfußboden aufgerissen oder das Wasser abgestellt ist,
kann man schließlich nicht hausfraulich tätig werden, und was gibt
es dann Besseres, als seinen heimwerkelsüchtigen Mann im Baumarkt
abzugeben und sich im Restaurant nebenan mit anderen Frauen zum
Gedankenaustausch zu treffen? Ja, natürlich gehört auch mein
Göttergatte zur Klasse der tüftelnden Alleskönner und ich bin
sogar stolz darauf. Was glauben Sie, welchem Umstand ich meine
Topfigur zu verdanken habe? Ich sage nur: Hometrainer. Angeschlossen
an den Fernsehapparat. Will ich den Tatort gucken, muss ich trampeln.
Erspart das Fitnessstudio und entlastet das Konto. Ebenso wie die
Tatsache, dass der neu installierte Herd an die Zuleitung des
Nachbarn angeschlossen ist, da brauche ich mit dem Gas nicht zu
geizen. Praktisch, nicht wahr? Die Restwärme meines Bügeleisens
kann ich übrigens zum Crèpe-Backen nutzen und seit der Reparatur
der Türscharniere hat mein Kleiderschrank sogar Innenbeleuchtung.
Sehr brauchbar: Sollte ich mal einen Liebhaber darin verstecken
wollen, kann der sich die Zeit mit dem Lesen der Waschetiketten
vertreiben. Hallo, Herr Ober, bitte noch drei Cognac und die
Dessertkarte!
Also
ich finde es ganz angenehm, hier zu sitzen. Es ist hell, warm und
sauber, um das Essen brauchen wir uns nicht zu kümmern und die
Männer sind beschäftigt und sitzen nicht in der Kneipe rum. Alles
eine Frage der Perspektive eben. Prost.
Gunda
Jaron
Begegnung
orientalischer Art
Der
Wagen erschien auf die Minute pünktlich. Mit einer Hand raffte ich
mein langes und wegen seiner Weite beim Einsteigen ein wenig
hinderliches Gewand zusammen, mit der anderen drückte ich die
schwarz-weiße Haube fester an den Kopf, damit sie nicht verrutschte.
Die Schwestern Annabel und Amelie nahmen im Fond Platz, ich selbst
setzte mich vorne zu Joseph, unserem Fahrer. Als der Wagen anfuhr,
sah ich mich kurz zu den beiden jungen Frauen in ihren langen dunklen
Kutten mit den frisch gestärkten, weißen Kragen um. Die Vorfreude
auf das Ereignis, dem wir schon so lange heimlich entgegengefiebert
hatten, stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
„Ihr
seid aufgeregt, nicht wahr?“, fragte ich mit einem Blick in ihre
strahlenden Augen.
„Ja,
Mutter.“ Beinahe unisono erklang ihre Antwort und ich lächelte,
denn ich verstand sie gut. Wann hatten wir schon die Gelegenheit, an
einer Veranstaltung wie der heutigen gemeinsam teilzunehmen. Und für
die noch sehr jungen, gerade erst ins Erwachsenenalter eingetretenen
Schwestern war es ohnehin das erste Mal, dass ihnen der Besuch
derselben gestattet war. Das Publikum würde bunt gemischt und die
Wortbeiträge vermutlich hochinteressant sein, war uns im Vorfeld
versichert worden, so dass wir die Lokalität mit einer gewissen
Erwartungshaltung betraten, nachdem Joseph uns zuvor beim Aussteigen
behilflich gewesen war und uns dann respektvoll die Türen zum Foyer
aufgehalten hatte.
Unwillkürlich
hielt ich den Atem an und spürte, dass Annabel und Amelie es mir
gleichtaten. Die seltsam fremde Atmosphäre des festlich geschmückten
Saales nahm uns sofort gefangen. Mehrere lange, geschmackvoll
dekorierte Tische, an denen jeweils etwa zwanzig Personen Platz
finden konnten, waren so aufgestellt worden, dass selbst während des
Essens noch ein Blick auf die am Ende des Raumes aufgebaute,
ebenfalls fantasievoll ausgestaltete Bühne mit dem Rednerpult
möglich war. Die Deckenlampen strahlten ein warmes, durch elegant
drapierte Tücher leicht gedimmtes Licht aus und die Luft schien vor
unterdrückter Spannung zu vibrieren.
Köstliche
Speisen ganz anderer Art, als Annabel, Amelie und ich sie sonst
gewohnt waren, warteten auf dem an der Wand aufgebauten Buffet
darauf, von uns verzehrt zu werden, und verbreiteten einen
aromatischen Duft. Ein musikalischer Klangteppich schwebte durch den
Raum, nicht gerade dezent, wie ich fand, aber das störte mich nicht
sonderlich, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, die
reizvolle Umgebung mit allen Sinnen in mir aufzunehmen.
Am
interessantesten war der Anblick der bereits anwesenden Gäste. Man
hatte uns wahrlich nicht zu viel versprochen. Die faszinierendsten
Gestalten bevölkerten den Saal und meine Augen blieben an einer
Gruppe selbst für diese Umgebung sehr ungewohnt gekleideter Personen
hängen. Vier von ihnen waren in helle Kandoras, den traditionellen
Kaftan eines Scheichs gehüllt, zwei hingegen trugen einen europäisch
anmutenden, eleganten schwarzen Anzug. Kaschmir, wenn sich meine in
solchen Dingen recht ungeübten Augen auf die Entfernung nicht
irrten. Alle aber hatten ihre Kleidung ergänzt durch ebenfalls weiße
Kopftücher, die von schwarzen Bändern umschlungen waren.
„Darf
ich Ihnen ein Glas Sekt anbieten? Oder lieber Orangen-saft?“
Eine
freundliche Stimme riss mich aus meinen Betrachtungen. Erschreckt
bemerkte ich, dass ich die sechs Beduinenfürsten ziemlich
unverfroren geradezu angestarrt hatte, und ich spürte, wie ich
errötete. Dankbar erfasste ich eines der auf einem silbernen Tablett
kredenzten Gläser, bot mir doch diese Geste die Möglichkeit, die
Peinlichkeit, die ich wegen meines ungebührlichen Verhaltens
empfand, zu verbergen. Annabel und Amelie hatten bereits zugegriffen
und prosteten mir zu, ein scheues Lächeln auf den Lippen. Mir
konnten sie nichts vormachen, die Schwestern genossen die Stimmung
und das Flair des ungewohnten Ambientes genauso wie ich. Ihre
kugelrund aufgerissenen Augen leuchteten in neugierigem Staunen und
ich schmunzelte etwas über ihre kindliche Begeisterungsfähigkeit.
Eine blonde Strähne hatte sich aus Amelies strenger Frisur gelöst
und mit einer schnellen Geste strich ich die vorwitzige Locke wieder
unter den Rand des weißen Schleiers zurück, bevor ich mit einem
leichten Nicken mein Glas hob.
Verstohlen
nippte ich an dem wohlschmeckenden Schaum-wein und wandte mich dann
wieder der Betrachtung der anderen Veranstaltungsteilnehmer zu. Wie
von einer magischen Kraft angezogen, erschien erneut die Gruppe der
nahöstlich gekleideten Gestalten in meinem Blickfeld und ich
erlaubte mir, halb versteckt hinter meinem Sektglas, sie genauer in
Augenschein zu nehmen.
Blankpolierte
Lackschuhe unter den wallenden Gewändern und den tadellos sitzenden
Hosen der Maßanzüge vervollständigten das stilvolle
Erscheinungsbild der sechs. Goldene Armbanduhren blitzten dezent
zwischen perfekt gebügelten, schneeweißen Manschetten und
olivbraunen Handgelenken auf. Mindestens acht Karat, so schätzte
ich, hatte der Brillant am linken Ringfinger des Ölprinzen, der ein
wenig abseits der anderen stand. Meine Augen wanderten an der
schmalen und doch kraftvollen Figur hinauf zu der schweren
Platinkette, die den schlanken Hals zierte. Irgendetwas an der
Haltung dieses Menschen irritierte mich, kam mir vertraut vor, wie
ich plötzlich überrascht registrierte. Unauffällig, wie ich
hoffte, zog ich die beiden sich bescheiden hinter mir haltenden
Schwestern näher in Richtung dieses Scheichs, um ein paar der Worte
aufschnappen zu können, die er soeben mit einem der Kaftanverhüllten
wechselte. Verblüfft horchte ich auf den mir eigenartig bekannten
Klang. Mir war, als habe ich diese Stimme schon einmal gehört, aber
in meinem Kopf wollte einfach kein dazu passendes Bild auftauchen.
Ein Hauch von Chanel No. 5 stieg in meine Nase und verwirrte mich
noch mehr. Wie gebannt starrte ich die hinreißend fremdländische,
königlich erhaben wirkende Erscheinung an und vergaß alles andere
um mich herum. Wer, zum Teufel ... Bestürzt über meine eigene
gedankliche Wortwahl hielt ich inne. Wie ungehörig von mir.
Und
da geschah es. Die Stimme verstummte und der Scheich drehte
unvermittelt seinen Kopf in meine Richtung. Wie ein Pfeil traf mich
ein glutvoller, verwegener Blick unter buschigen Augenbrauen heraus,
schien mich festhalten zu wollen, geradezu zu durchbohren. Ob mir
meine Ratlosigkeit anzusehen war? Die schön geschwungenen, von einem
tiefschwarzen, fast schon unnatürlich dichten Bart umgebenen Lippen
waren leicht geöffnet, als wollten sie mir einen Kuss zuwerfen,
bevor sie sich zu einem leichten, etwas spöttisch anmutenden Lächeln
verzogen – und blitzartig durchzuckte mich die Erkenntnis. Ich
nickte kaum merklich, unfähig, meinen Kopf abzuwenden und meinen
Blick von dem so überaus attraktiven Bild zu lösen, obwohl ich mir
bewusst war, wie unhöflich das wirken musste.
Ein
leichtes Räuspern zu meiner Rechten holte mich wieder in die
Wirklichkeit zurück. Annabel, eine der beiden Schwestern, zupfte
mich leicht am Ärmel.
„Mutter
Oberin“, rügte sie mich streng und in ihren Augen funkelte der
Schalk, „bitte benehmt Euch geziemend!“
Erschrocken,
dass mein heimliches Beobachten nicht unbe-merkt geblieben war,
senkte ich schamhaft die Lider. Wie hatte ich auch nur für einen
Moment vergessen können, dass ich das Gewand einer Nonne trug.
Seufzend stellte ich mein leeres Glas auf dem soeben dargebotenen
Tablett ab und ließ mich von Amelie gesittet zu unserem gleich in
der Nähe stehenden Tisch führen, an dem bereits zwei Polizisten,
drei Putzfrauen, ein Mozart, eine Madame Pompadour, vier
Schmetterlinge und ein Pik Ass Platz genommen hatten. Bevor die
Serviererin wieder das Weite suchen konnte, ergriff ich drei der
frisch gefüllten Sektflöten, drückte meinen beiden Töchtern
Annabel und Amelie je eines in die Hand und gemeinsam kicherten wir
drauflos.
„Mädels,
nun seid mal nicht so kleinlich“, blitzte ich sie fröhlich an und
winkte meiner Nachbarin Beate zu, die in ihrer Scheichkostümierung
wirklich umwerfend aussah, „Weiber-fastnacht ist schließlich nur
einmal im Jahr.“
Zu guter Letzt:
Schlussendliches
Es
ist vollbracht
Das
hätten Sie nicht gedacht, was? So etwas im Zeitalter von eBook und
Co.?
Ich
gebe zu, auch ich dachte, diese Spezies sei längst ausgestorben,
verstaubt in antiken Räumen mit Plüsch-vorhängen und Ohrensesseln.
Zimmern, in denen die Luft vom Rauch des Kaminfeuers und der
Tabakpfeife geschwängert ist, und deren Wände die Aura längst
vergangener Jahrhunderte atmen. Überdimensionale Kronleuchter
erhellen die Szenerie, werfen ihr Licht in verschwiegene Ecken und
vor allem auf die ausgedehnten Regale, die sich meilenweit zu
erstrecken scheinen. Leitern führen von irgendwo kommend hinauf in
entfernte Gefilde menschlichen Denkens. Vor meinem geistigen Auge
erscheint ein Bild: Oben auf der Leiter steht ein älterer Herr,
graue Haare, schwarzer Frack. Ein Buch zwischen den Beinen, eins
unter dem Arm, eins in seiner Rechten und eins, das in seiner Linken,
ganz dicht vor der Nase, lesend. Ein Lichtschein fällt auf das
Bücherregal vor ihm, erleuchtet schwach die Rubrik, mit der er sich
beschäftigt: Metaphysik.
Dieses
Bild hing lange neben meinem eigenen großen Bücherregal. Jetzt –
nach vielen Jahren und einigen Umzügen ist es mir abhanden gekommen
– lebt Spitzwegs Bücherwurm in meinem Herzen weiter.
Wissen
Sie, eBook-Reader und Co. sind etwas Wunderbares. Sie haben in diesen
Geräten eine ganze Bibliothek unter dem Arm und können wo Sie gehen
und stehen in Ihren Lieblingsbüchern lesen. Aber haben Sie sich
schon mal mit einem solchen Gerät unter die Bettdecke gekuschelt, um
sich von einem romantischen Happy-End in den Schlaf wiegen oder gar
von einem spannenden Krimi wachhalten zu lassen? In solchen
Augenblicken fehlt der Geruch von Druckerschwärze und Papier, die
Möglichkeit, Worte nicht nur zu lesen, sondern sie auch anzufassen –
und notfalls mit ihnen einzuschlafen.
Heute
ist etwas Wundervolles passiert. Ein großer brauner Umschlag liegt
vor mir. Ich öffne ihn. Mir fällt ein flaches Rechteck daraus
entgegen, schön eingewickelt und verschnürt wie ein Geschenk.
Langsam packe ich es aus, falte sorgfältig das Papier zusammen,
bevor ich es zur Hand nehme: Ein Buch. Genauer gesagt: Die
Erstausgabe. Andächtig streiche ich über den Einband, lasse die
Seiten beim Aufblättern durch die Finger gleiten, genieße diesen
speziellen Geruch, den nur ein druckfrisches Exemplar ausströmen
kann.
Es
ist vollbracht. Ich atme tief durch, meine Augen glitzern: Unser
Werk.
Wie
oft hieß es bereits, das gedruckte Buch sei tot. Das ist es nicht –
und den lebendigen Beweis dafür halte ich nun in meiner Hand. Und
Sie auch.
Ohne
euch wär's nicht passiert
Eigentlich
liest das ohnehin kaum jemand, oder? Ich konnte es mir dennoch nicht
verkneifen: Bei einer Handvoll Leuten bedanke ich mich für ihre
Unterstützung, auch wenn sie selbst davon aktiv vielleicht gar
nichts mitbekommen haben. Zunächst bei zwei Frauen. Meiner Tochter
für ihren unerschütterlichen Glauben („Mama, irgendwann schreibst
du mal ein Buch. Ich kenne ein paar Leute, die es kaufen würden
...“) und meiner Mutter für ihre aufmunternden Worte („Mach
doch, manche starten eben erst richtig durch, wenn sie älter
werden.“) Danke, Mama ...!
Und
dann bei drei Männern. Bei Thomas Staufenbiel, der nicht nur den
Anstoß für die Zusammenarbeit zu diesem Buch gab, sondern mir auch
die Augen öffnete, wenn mich bei meinen eigenen Texten mal wieder
die Betriebsblindheit geschlagen hatte, und bei Slov ant Gali, einem
befreundeten Autor, für das geliehene Wort, sein gelegentliches
Knurren und so manche Inspiration ... Und last but not least bei
meinem Mann dafür, dass er nicht den Stecker zog, wenn er mal wieder
stundenlang mit der Ansicht meiner Rückfront vorlieb nehmen musste.
Danke, Leute! - Ach, einen ganz besonderen Mitstreiter darf ich
natürlich nicht vergessen: meinen kirschbaumhölzernen Schreibtisch,
der mir die ganze Schaffensphase über zuverlässig zur Seite
beziehungsweise unter meinen schreibenden Händen gestanden hat,
manchmal schwer von mir belastet und manchmal etwas unaufgeräumt –
aber immer mit allen vier Beinen fest auf dem Boden.
Gunda Jaron
Ich
danke unseren Lesern für ihre Aufmerksamkeit diesem Büchlein
gegenüber. Empfehlen Sie es einfach weiter.
Thomas Staufenbiel
Die
Autoren
Gunda
Jaron
Bisher
sind mehrere Lyrik- und Prosatexte aus ihrer Feder in den folgenden
Bänden erschienen:
Jahrbuch
2008 der Frankfurter Bibliothek
"Oliven
mattes Grün"
Engelsdorfer
Verlag
ISBN
978-3-86901-013-7
"Halbschattengewächse
auf Mischboden"
DoplPack-Verlag
ISBN
978-3-941570-00-9
„Ein
Netz von Wegen“
Engelsdorfer
Verlag
ISBN-13:
978-3-86901-048-9
„Lob
der Jadeflöte“
quartus-Verlag
ISBN
978-3-936455-87-8
„Ausgewählte
Werke XVI“
Bibliothek
deutschsprachiger Gedichte
2013
„Liebe
mbH“
Lyrisches
- dreistimmig
Verlag
neun9zig
ISBN
978-3-944907-00-0
Im
Internet zu finden unter: gunda.mystorys.de
Thomas
Staufenbiel
Bisherige
Veröffentlichungen:
Gedicht
und Gesellschaft 2010
der
Frankfurter Bibliothek "Das neue Gedicht"
Gedicht
im
Gedichtekarussell
Nr. 6, „Zwischen den Jahren“
Eigener
Lyrikband
„Meine
Seelen Pest“
Edition
Trianon - August von Goethe Literaturverlag
ISBN
978-3-8372-0675-3