Sonntag, 30. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1530

Zweifel sind nicht mehr angebracht: Morgen beginnt der Monat Oktober und das heißt, wir haben Herbst. Dem tragen auch die Gedichte des Tages Rechnung. Außerdem geht die Erzählung vom Planeten der Schla weiter ...

Schade an dem Gedicht ist, das "nervtötenden" nicht in der Wortmelofie bleibt. Ansonsten ist der heimatliche Menschen-Spiegel, den Petra Namyslo in "Infantil" lyrisch anbietet nämlich einen Platz im Kabinett menschlicher Verlorenheiten wert. (Ob die Beschriebenen sich wohl selbst erkennen?)
Na, dann setze ich eben ein Herbstgedicht daneben - schließlich ist gerade der 1. "Oktober" ...

Slov ant Gali: Der lebende See (10)


... Als ich erwachte, flog ein großes Bündel durch die Luft. Meine Finger verkrampften. Ich merkte, dass ich das schlafende Baby umfasst hielt. Ich erkannte Schla aus der Siedlung. Mein Blick fiel auf die Oberfläche des Sees. Ausgebreitete Arme, ein überdimensionaler Hinterkopf, ein aufgeblähtes Umhang-Kleid. Langsam taucht alles unter. Ein paar Blasen noch. Schwarze, glatte Oberfläche. Stille. Nur ich sehe mich entsetzt um. Ringsum Erwachsene meiner Siedlung mit Gesichtern, die Abschied nehmen, stumm, gefasst und irgendwie trotzdem glücklich.
Die Vorsteherin kam auf mich zu, Wroohn an ihrer Hand. Mit der Bestimmtheit der Verantwortung nahm sie mir das inzwischen quäkende Baby aus den Händen. Reichte es Wroohn. Meine Wroohn hielt es, wie ich es von stillenden Menschenfrauen kannte. Das Babymädchen suchte, fand ... da begann der Zug der Frauen. Eine jede schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem See, ließen Wroohn trinken und tropften Reste auf den Kopf des Baby-Mädchens. Obwohl ich es nicht wollte, starrte ich das Bild die ganze Zeit an. Über dreißig Frauen nacheinander wiederholten die Griffe der ersten.
Diese Nacht verbrachten wir alle am Ufer des Sees. Es geschah aber nichts mehr, was zu überliefern wert wäre. Die folgenden Tage und Nächte waren ein ständiges Hin und Her. Mal meinte ich, das müsste ich nicht verstehen, so sei das offenbar bei den Schla, mal stöhnte ich über das, was wohl auch die jungen Väter bei den Menschen durchmachten.
Vater sein. Für viele Tage versank alles Andere im Nebel der Unwirklichkeit. Doch zwischendurch, besonders, wenn ich ausnahmsweise nicht durch Babygebrüll aus dem Schlaf gerissen wurde, umschlich mich eine Ahnung von Grauen. Ich konnte einfach nicht sagen, schön, dass Olahoo lebt, egal, was es mit dem See auf sich hat, ich musste mich daran festhalten, dass der Augenblick kommen würde, da würde ich die Geheimnisse dieser Welt entschlüsselt haben …
Monate vergingen. Meine Beziehung zu Wroohn war durch Olahoo vielseitiger geworden. Wir teilten nun eine Aufgabe, mit der wir über die Grenzen unseres eigenen Lebens hinaus Verantwortung übernahmen. Das kleine Mädchen machte es uns leicht. Es war sehr ruhig, lächelte viel und ich war sehr stolz darauf, jedes Lächeln dieser winzigen Schla zu erkennen, ja, es auch vorsätzlich auslösen zu können. Überhaupt legte ich genau jenes Benehmen an den Tag, mit dem sich junge Eltern vor Nicht-Eltern mitunter lächerlich machen. Vor allem schien Olahoo zu spüren, wenn ihren Nur-gute-Freunde-Eltern nach dem Austausch von Zärtlichkeiten war. Sie schien sich ihre eigenen Bedürfnisse zu verkneifen, schlief entweder tief und fest oder gab zumindest keine störenden Geräusche von sich. Ich hätte nie geahnt, wie viele Zärtlichkeiten es gibt, die man austauschen kann, wenn man akzeptiert, dass eine ganz spezielle eben nicht geht.
Andererseits machte das Anderes so schwierig. Immer, wenn ich daran dachte, das Geheimnis des lebenden Sees lüften zu wollen, hatte ich das Gefühl, Wroohn zu hintergehen. Sie war so penetrant liebenswert in ihrer Art. Das Schlimme war, dass es für die Siedlung keine Herausforderungen gab. Die Nahrung war vielseitig, angenehm in unterschiedlichen Geschmäckern und leicht in der Gewinnung. Die Hütten, die ja eigentlich gar keine waren, erfüllten ihren einzigen Zweck, den Nachmittagsregen abzuhalten. Von leichtem Schutz für die Füße abgesehen gab es keinen Grund für irgendwelche Bekleidung. Höchstens war das Wedeln der lockeren Umhänge erfrischend für die Haut. Was sonst eventuell gebraucht wurde, fand sich im Umkreis von drei Kilometer Radius – insofern war die Entfernung zum lebenden See eine unerklärliche Ausnahme. Er schien tatsächlich verschiedene Heilkräfte zu enthalten. Wroohn hatte er zum Beispiel in eine Amme verwandelt. Einen See zum Baden gab es ja unmittelbar hinter der Siedlung – und dessen Wasser war wirklich klar, klarer ging es nicht. Er bildete das andere Ende der Welt der Schla. Wäre ich nicht im Dämmerzustand nach dem Absturz noch ein Stück gelaufen, hätten die mich nie gefunden. ...


  

Samstag, 29. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1529

Was ist das dauerhafteste Thema der Lyrik? Logisch: Liebe in all ihren Facetten. Na, diesmal teile ich mir das Thema mit Gunda Jaron. Um die Frucht einer Schla-Liebe wird gerade in der aktuellen Fortsetzung der utopischen Geschichte gekämpft:


Motto des Tages: Wir können nicht loslassen, weil wir so sehr lieben.
Auf Gunda Jarons "Abschied", eine Bahnhofsszene, die sicher schon viele so empfunden haben, antworte ich mit der weiter bearbeiteten Fassung von "Innig" ... Wie hieß noch die Formel? Bis dass der Tod euch scheide? Das kann man auch SO sehen ...

Slov ant Gali: Der lebende See (9)


... Mit der Angst der Verzweiflung rannte ich. Erst einmal nur, um aus dem Blickfeld der Schla zu kommen, dann mit der Angst, die ersten Schla könnten von der zurückliegenden Hügelspitze aus auf die Idee kommen, dass ich mich nicht genug beeilte. Schließlich, weil ich nichts anderes wusste als weiterzurennen. Zweimal prüfte ich den Inhalt des Bündels. Das Baby war noch nicht tot.
Wie viele Kilometer der Weg lang war? Ich bekam genauso wenig eine Vorstellung davon wie bei dem Zug, in dem ich hatte untertauchen können. Als ich dann endlich über die letzte Hügelkette hinweg war und den See sah, packte mich plötzlich eine maßlose Verzweiflung. Was hatte ich gerade Unsinniges getan? Mein Schicksal war so oder so besiegelt. Wieder prüfte ich den Zustand des Babys. Noch immer nicht tot. Aber … musste dieses Würmchen als erste und wahrscheinlich einzige Lebensäußerung diesen Brei in die Matte abgeben? Scheiße?! So konnte es doch nicht bleiben!
Ich atmete tief durch. Beinahe böse grinste ich dieses feindliche Wasserloch an. Nun würde es doch noch eine Rolle spielen. Das Flechtwerk, in das das Baby eingewickelt gewesen war, schmiss ich achtlos zur Seite. Vorsichtig näherte ich mich dem stillen Gewässer. Ich tauchte den unteren Teil des Babykörpers ins Wasser und meine beschmierte Hand. Etwas auf und ab, reiben, drehen. Also, wenn ich es richtig sah, wäre das ein Schla-Mädchen geworden. Noch einmal … Verdammt!
Gerade noch bekam ich auch mit der Hand, die ich mitgewaschen hatte, die Ärmchen des Würmchens zu fassen. Doch der Zug wurde immer kräftiger. Ich kam mir vor wie ein Angler, bei dem ein Megamonsterriesenfisch angebissen hatte, die Rute bog sich, der Angler stemmt sich, kommt ins Rutschen, will noch immer nicht loslassen …
Um Widerstand zu leisten, hätte ich mich irgendwo abstützen oder festhalten können müssen. So aber waren auch die Ärmchen unter Wasser und ich rutschte vom Ufer weg, versank im Schlick. Nun war kein Stückchen Babyhaut mehr über Wasser. Ach, hatte ich schon erwähnt, dass man kaum zentimetertief unter Wasser sehen konnte? Nur nicht loslassen! Aber ich fand keinen Halt.
Irgendwas habe ich geschrien. Seewasser kam mir in den Mund, durch die Nase in den Rachen, in die Augen …
Ich habe den Augenblick verpasst, als die Kraft nachließ. Also nicht meine Kraft, sondern die Kraft des Soges. Allmählich merkte ich, dass ich zum Ufer schwamm, das Baby als Siegerbeute auf einer Hand hochgestreckt aus dem Wasser. So wenige Bewegungen und solch eine Erschöpfung! Plötzlich begann das Baby zu schreien. Es brüllte. Ich konnte mich nicht aufrichten, versuchte mich daran zu erinnern, ob ich einen Film gesehen hatte, wie man in so einem Moment ein Baby hält. Und dann hustete es und spuckte Wasser und brüllte und gab endlich ein Geräusch von sich, das so zärtlich Bäuerchen genannt wird und das mir so laut vorkam, als sei das Würmchen größer als ich … und dann war es still. Ich hielt ein Ohr an die winzige Brust. Es atmete. Ganz ruhig. Schlief. Ein ansteckender Schlaf ...


  

Freitag, 28. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1528

Mehr als selten taucht zwischen den "Gedichten des Tages" eines in Dialekt auf. Morgen hebt sich der Vorhang für eine Ausnahme. Was mag an der utopischen Erzählung als Ausnahme gelten? Dass es sich lohnt, sie zu lesen, doch hoffentlich nicht, oder?


Was sollte eigentlich wenigstens einmal im Jahr auf einem Blog veröffentlicht sein, das aus Berlin kommt? Richtig: Eine Berlinerei. Welch Glück: Petra Namyslo gibt uns die Gelegenheit. "Kiek ma!" ist da ihr gedichteter Schlachtruf. Allerdings ... wer mir das Wort "Sonett" in diesem Text erklärt, bekommt einen Zusatzpunkt ... 
Immerhin ist es eine Idee, falls die lyrische Litanei zu herbstlich wird: September


Slov ant Gali: Der lebende See (8)


... Mit dem See hatte es eine besondere Bewandtnis – und zwar eine wirkliche, etwas, was nicht ins Reich fantasievoller Mythen gehörte. Als ich Wroohn fragte, erklärte sie: „Der See wird dir das Wissen geben, wovon der See meint, dass es gut sei, wenn du es hast.“ Inzwischen war ich zwar noch zu sehr Mensch, um mich damit zufriedenzugeben, aber schon weit genug Teil der Gemeinschaft der Schla, um zu wissen, dass weitere Fragen nur auf Ablehnung stoßen würden. Eigentlich wollte ich Wroohn nicht weh tun, doch ich nahm mir vor, mich heimlich allein auf den Weg zu machen.
Es kam anders.
15 Tagesstriche auf meinem geheimen Kalender waren vergangen – ja, ich versuchte, irdische Zeitbeziehungen zu benutzen, obwohl ich um keine Tageslänge wusste und für andere Zeiteinteilungen kein für mich nachvollziehbarer Anhaltspunkt vorhanden war – als uns Geschrei aus der drittletzten Hütte auf der anderen Seite weckte. Ich wollte zur Hilfe eilen, da hielt mich Wroohn zurück. „Najolooh schenkt einem neuen Kopf Licht. Da kannst du nichts tun. Es ist ihr erster Kopf. Die Frauen werden ihr helfen.“ Und wirklich: Über der Siedlung lag schon wieder die übliche Stille. Nach einer Weile aber breitete sich ein seltsamer Klagegesang in der Siedlung aus. Es war unheimlich. Wer auch immer die Töne hörte, stimmte sofort mit ein. Auch Wroohn. Und sie sah mich dabei vorwurfsvoll an, warum ich denn dieses Lied nicht mitsänge. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass anfangs einmal dieser Gesang zu hören gewesen war, als Wroohn mich gepflegt hatte. Die Stimmen wurden immer lauter. Plötzlich standen viele Schla um den Eingang unserer Hütte herum. Die Vorsteherin trat vor.
„Ihr sagtet, ihr seid bereit. Ihr wollt einen neuen Kopf zu einem reifen Schla pflegen. Ein neuer Kopf ist allein. Ihr müsst den See fragen. Er wird über euer Zusammensein entscheiden.“ Dazu ließ sie sich ein Bündel reichen, das sie an Wroohn weitergab. Die nahm es mit Inbrunst an sich. Aber es konnten nur Sekunden sein, da zeichnete sich ein großer Schmerz auf ihrem Gesicht ab. Sie reichte das Bündel mir.
Es war ein Baby. Das hatte ich erwartet. Es lebte. Das hatte ich fast schon nicht erwartet. Aber trotz aller Ahnungslosigkeit um die hiesige Biologie beherrschte ein Gedanke die vielen anderen durch mein Gehirn rasenden: Lange würde dieses Würmchen nicht zu leben haben. Was immer Babys brauchten … nichts davon hatte es hier. Insofern verstand ich die Frauen nicht, was sie ausgerechnet auf mich einredeten. Aber sie wiederholten sich immer eindringlicher. Schließlich begriff ich: Ich sei größer und stärker als alle in der Siedlung, vor allem hatte ich längere Beine. Wenn es ein Wesen rechtzeitig schaffen konnte, das Kleine in den lebenden See zu tauchen, um es dem Leben zu retten, dann wäre ich das. Auch Wroohn sprach ähnlich.
Was sollte ich tun? Die ganze Gemeinde war demselben Aberglauben aufgesessen. Das Baby war nicht zu retten, wenn die Mutter gestorben war und es nicht durch einen Arzt behandelt wurde. Wenn ich jetzt aber nichts tat, würde ich verstoßen für immer. Und noch etwas Anderes entnahm ich den Worten der Schla-Frauen: Man sei schon mit der Mutter aufgebrochen zum See. Wenn ich auch nur eine Chance auf Überleben haben wollte, musste ich rennen, um früher anzukommen. Und ich packte das Bündel, rannte los. Ich überholte den Trauerzug, an dessen Spitze die – wenn ich nichts falsch verstanden hatte – verstorbene Mutter auf einer Trage hochgehalten in Richtung See getragen wurde. ...




Donnerstag, 27. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1527

Draußen gibt es Grund, elegisch zu werden - also folgt innerhalb der "Gedichte des Tages" wieder etwas Herbstliches. Immerhin gibt es diesmal etwas "Gemeinsames" zwischen einem der Gedichte und der Fortsetzungsgeschichte. Auch bei dem Prosaabschnitt geht es ums Baden, das nicht wie gewünscht verlaufen kann ...


Was mir an dem Gedicht "Ausgewaschen" von Thomas Reichgefällt, verrate ich nicht. Es wäre langweilig für den Leser, darauf mit der Nase gestoßen zu werden. Ich beschränke mich auf das, was mir nicht gefällt, und sage ein Wort: Selbstmitleid. Ein Glück, dass wir zwischen Autor und lyrischem Ich unterscheiden können ...
Selbstmitleid?! Na, da passt doch ein mit Schmunzelgrübchen überzogenes Herbstgedicht gut dazu, oder? Nennen wir es "Sandstrandelegie"

Slov ant Gali: Der lebende See (7)


... Aber Wroohn zog schon ihr Kleid über den Kopf. Was blieb mir übrig. Auch ich legte meinen Umhang ab, griff nach Wroohns Hand und schritt vorwärts. Das Wasser war warm, fast hätte ich „blutwarm“ gesagt. Es wurde schnell tiefer, erreichte Wroohns Kinn, Wroohns Nase, ihre Augen, ihre Stirn, ihre dünn-wirren, silbern glänzenden Haare. Schon war ihr Kopf unter der Oberfläche verschwunden. Bei diesem Tempo bliebe sie mindestens drei Minuten unter Wasser und ich wusste nicht, wie tief es noch werden würde. Ich packte meine Schla mit dem Arm, hob sie über die Wasserfläche, schritt weiter. Ich war nie ein sonderlich guter Schwimmer, doch mich an der Oberfläche halten und vorankommen, als ginge ich am Grund spazieren, war eine leichte Übung. Da machte Wroohns kleines Gewicht keinen Unterschied.
Inzwischen hatte ich den Eindruck, die Mitte erreicht zu haben. Bislang war ich noch an keinen einzigen Korb gestoßen. Das war mir genauso unerklärlich wie die Tatsache, dass alle Körbe sofort versunken waren, obwohl sie eigentlich hätten an der Oberfläche schwimmen müssen.
Wir waren dem anderen Ufer näher als dem, von dem wir gekommen waren. Plötzlich ein Schreck!Von wegen Körbe oder Faulgase! Mich umfassten plötzlich riesige, ich meine wirklich riesige Pranken. Vier Hände an Unterschenkeln und Brustkorb. Die Kraft eines unsichtbaren Monsters zog mich nach unten und mir war, als leckte eine Zunge an mir. Diese Zunge schien zwei Meter lang und mehr als einen halben Meter breit und an jedem Hautfetzen unter der Wasseroberfläche gleichzeitig zu sein. Es gab kein Vorwärts mehr. Aufgeben, einfach aufgeben, den Moment verkürzen. Aber Wroohn? Krampfhaft hielt ich sie so, dass ihr Kopf über Wasser blieb. Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen, wenn sie doch nicht schwimmen konnte. Noch immer die Zunge. Aber kein Maul! Stillstand. Atmen.
Ich hörte absolut nichts. Eigentlich unmöglich, dass die vielen Schla am Ufer … Oder hielten sie alle vor Entsetzen den Atem an?
Und dann hatte ich das Gefühl, die Riesenpranken rutschten an meinem Körper abwärts. Nein. Es war nur die eine. Eine andere hängte sich an den Arm, an dem Wroohn hing.
Alles nicht wahr. Ein solches Untier konnte es nicht geben. Wenn es wenigstens Wroohn in Ruhe gelassen hätte. Hätte die jetzt gezappelt, … ich hätte nichts tun können. Gemeinsam wären wir versunken. Doch sie vertraute meinem Arm. Und …
War das alles nur Einbildung? Krämpfe? Angst? Jedenfalls war da nichts, was an meiner Haut leckte, als das ungewöhnliche Wasser. Nichts zerrte an mir. Ein paar Hundepaddelbewegungen mit den Beinen, dann hatte ich Grund. Als mein Bauchnabel zum Vorschein kam, fiel mir ein, Wroohn abzusetzen. Aber loslassen, nein, loslassen würde ich sie nicht. Als ich bis zu den Knien aus dem Wasser war, erreichte mich der Gesang der Vorsteherin. Wir mögen durch den See zurückkommen. Wir kamen – ohne Zwischenfall. Kleideten einander an. Also wirklich ich Wroohn und – das muss ein Bild gewesen sein – Wroohn mich, indem sie an mir hochkletterte, um den Umhang über meinen Kopf zu bekommen.
Vom Rest der Feier bekam ich kaum etwas mit. Die ganze Zeit fragte ich mich, ob ich wirklich erlebt hatte, was ich meinte, erlebt zu haben, und wenn ja, was das gewesen sein konnte. Ein lebender See? Mir war er wie ein tötender See vorgekommen. Wahrscheinlicher schien mir, dass ich einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen war. ...




Mittwoch, 26. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1526

Zumindest die Gedichte des Tages stehen morgen im Zeichen des nun doch unverkennbaren Herbstes. Die Fortsetzungsgeschichte ...? Na, noch ist das Geheimnis der "Schla" dem Helden unbekannt ... aber nicht mehr lange ...


Fast hätte ich es nicht beachtet: Mensch, Slov, das ist doch Herbst, was da draußen lacht!
Na, ein Glück, dass sich da einer der liebsten Menschen, die mir je begegnet sind, einen Stubser verpasst hat. Also ein besonderer Gruß heute für alle die, die ihre heimische Sauberkeit so richtig zelebrieren können: "Herbstputz?!" ...
Na, wenn schon Herbst, dann auch ein wenig mit so richtig herbstlicher Lürick - beginnen wir also mit einem "Sommerausklangsblick" ... 


Slov ant Gali: Der lebende See (6)


... Wroohn regelte alles, was es den Riten ihrer Gemeinschaft entsprechend zu regeln gab. Das war mir sehr recht, auch, dass sie ständig neben mir sein würde. So konnte ich nichts falsch machen. Sie trug auch die Sachen für unsere beiden geflochtenen Körbe zusammen. Jeder aus der Siedlung würde so einen Korb für den See mitbringen als Speisung und Danksagung und Bitte um Schutz für die Unwägbarkeiten der bevorstehenden Tage und Nächte. Neugierig sah ich mir an, was da einem See zugedacht werden sollte. Lauter Pflanzen oder Pflanzenprodukte, die im Leben der Schla wichtig waren, nichts Kultisches.
Am großen Tag war es ungewöhnlich laut in der Siedlung. Am Vormittag zogen mit bunt gefärbten Bändern behängte Kinder den Weg entlang, jedes mit seinem Korb unterm Arm. Wieder etwas Neues. Selbst Wroohnis Feierkleid war schlicht hellgrau und ohne Schmuck. Am Siedlungsausgang sammelten sich die Kleinen. Die Erwachsenen folgten ihnen gemessenen Schrittes. Da schon fast alle sich eingeordnet hatten in den Zug, fiel es mir schwer, mich zurückzuhalten. Wroohn hatte nämlich erklärt, es werde streng nach Rang der Personen zum See gezogen, mit dem niedrigsten beginnend, woran dieser auch immer bemessen wurde. Warum sollte nur die Gemeindevorsteherin noch hinter uns schreiten? Sie hatte zumindest die Ehre von sechs quicklebendigen Kindern als Zeichen des Wohlwollens des Sees. Weshalb wir uns fast als Letzte einreihen sollen, erschloss sich mir nicht. Vielleicht lag es daran, dass man mir als Fremdling damit eine besondere Ehre erweisen wollte.
Endlich ging es für uns beide los. Es war ein langer Zug. Als Vorletzter zu laufen, ohne das Ziel zu kennen, hatte Nachteile. Dass ich alle Schla wesentlich überragte, glich dies nicht ganz aus. Außerdem ... Bald war die Zeit heran für den Nachmittagsguss. Nicht gerade wünschenswert, ihn im Freien zu ertragen. Das schien keinen Schla zu interessieren. Wir waren über mehrere Hügel gepilgert. Die Strahlen der hiesigen Sonne brannten auf mich herab, dass ich fast schon den Guss herbeisehnte. Einzig, dass die Kinder vorn das Tempo vorgaben und die Beine aller Erwachsenen deutlich kürzer waren als meine, zwang mich zur Beherrschung.
Und wieder ein Hügel. Oben jedoch öffnete sich dann ein faszinierender Ausblick. Weites Land. Eine Savannenlandschaft. Und endlich das Ziel. Und ich war enttäuscht. Unser Ziel war tatsächlich … ein See. Eigentlich hätte ich sogar eher Tümpel gesagt. Fast wäre mir jede Feierlichkeit abhanden gekommen. Sollten alle Schla in dieses Wasser hinein, dann träte es mit Sicherheit über seine Ufer. Und bald röche jeder wie sein Nebenmann.
Doch es kam anders. Mit überraschender Disziplin teilte sich der Zug im Reißverschlussverfahren. Ein Teil der Kinder umging den See rechts, der andere links. Das setzte sich fort, bis Wroohn und ich das Ufer erreicht hatten.
Hinter uns sang die Vorsteherin. Nach jedem Satz echote die ganze Gemeinschaft das letzte Wort. Magisch wirkte das Ganze. Immerhin verstand ich inzwischen fast alles. So begriff ich, dass es um uns beide ging, dass der See um Zustimmung für unsere Verbindung gebeten wurde. Dazu warfen nacheinander alle Schla ihre Körbe ins Wasser. Nur wir hielten sie noch in den Händen, denn die Vorsteherin hatte ihren Korb über meinen Kopf hinweggeschleudert. Viele Blasen stiegen auf. Die Vorsteherin sang etwas von großer Weisheit und dass wir dieses Wasser des Lebens durchschreiten sollten. Wroohn flüsterte mir zu: „Wir müssen unsere beiden Körbe in der Mitte des Sees ablegen.“ Am Ende würden wir laufend in fremde Körbe treten und voll Faulgase sein! Na, danke! ...


  



Dienstag, 25. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1525

1525. Das ist nicht nur die erreichte Zahl der Literaturjournale - es ist auch ein deutsches Schicksalsjahr, in dem die aufständischen Bauern geschlagen wurden, womit der jahrhundertelange Ausstieg "Deutschlands" aus der Weltgeschichte Wirklichkeit wurde.
Die Gedichte des Tages morgen haben damit nichts zu tun - sie drehen sich ausschließlich um die Liebe .... und die utopische Erzählung hängt auch nur entfernt mit Bauern, garantiert aber nicht mit Aufständischen zusammen ...


Es heißt, Frauen dürfe man bei bestimmten Dingen eben nicht beim Wort nehmen. Das hatte wohl der lyrische Er nicht beherzigt und "sie" "Im siebten Jahr beim Wort genommen" ... Die Strafe folgte auf dem Fuß ...
Aber zum Ausgleich ein Produkt "Goldener Hochzeit", in dem sich die Partner outen, dass sie nicht dichten können ...

Slov ant Gali: Der lebende See (5)


... Wäre ich immer nur mit Wroohn zusammen und dabei nur guter Freund geblieben, hätte ich das wahre Geheimnis der Schla wahrscheinlich nie erfahren …
Es war drei Tage vor dem Fest der ewigen Wiederkehr. Ich hatte es verstanden als so etwas wie eine Sonnenwendfeier, obwohl ich niemanden beobachtet hatte, der einen solchen Tag hätte festlegen können. Es wurde, wie mir schien, angebaut oder geerntet, was gerade da war, nicht nach vorausschauenden Daten.
Wroohn schien besonders aufgeregt. Einen ganzen Abend zwang sie mich zum Zusehen. Erst nackt. Gut. Das war ich inzwischen gewöhnt. Ein zierliches Mädchen mit großem Kopf. Dann aber zog sie Umhänge über. Ich sollte entscheiden, in welchem sie am besten aussähe, richtiger: in welchem ich ihr am besten gefiele. War das schrecklich! Vielleicht 15 Umhänge, die wohlmeinend auch Kleider genannt werden konnten, führte sie vor … aber eigentlich erkannte ich nur bei dreien überhaupt Unterschiede. Also mir kam es so vor, als streifte sie das gerade abgestreifte Kleid wieder neu über. Wenigstens sang sie dabei und ihr Gesang bedurfte keiner Eingewöhnung, ihn schön zu nennen.
„Also ich habe mir das so gedacht“, zwitscherte sie zwischendurch, „wir haben doch jetzt lange miteinander getestet, dass der Vorschlag des lebenden Sees, als Partner zusammen zu sein, von der wissenden Weisheit tiefen Gefühls getragen war. Wollen wir nicht beim großen Fest unsere Bereitschaft verkünden, der Erhaltung unserer Gemeinde in kommende Generationen zu dienen?“
Da schien es nun doch zu sein, wovor ich mich so gefürchtet hatte. Ich sollte dafür sorgen, dass Wroohn schwanger würde. Etwas blumig formuliert, aber ja wohl unmissverständlich. Mir entglitten die Gesichtszüge.
Wroohni kannte mich inzwischen gut genug. Sie ließ ihre Hand von mir ab, sah mir fest ins Gesicht … und begann zu lachen. „Ach nein! Nicht das. Es gibt würdige Schla-Frauen, die den Mut zu mehreren Babys haben und manche Mutter nimmt das Wasser zurück. Willst du mit mir Kinder großziehen, auch wenn sie nicht in mir gewachsen sind? Ich möchte dem Wasser sagen, ich will!“
So viele Gedanken tanzten einen unbekannten Tanz, traten sich gegenseitig auf die Füße. Hatte ich bisher immer die Überzeugung bewahrt, dass ich Mensch war und alles, was hier geschah, ein Zwischenspiel vor der baldigen Rückkehr zu meinesgleichen, dass ich also bald schon eine richtige Frau in den Arm nehmen würde und mehr mit ihr wäre als nur ein guter Freund, so hieß, hier JA zu sagen, Teil dieser Welt zu werden. Letztlich entschied die Scham. Ich brachte einfach nicht fertig, Wroohn, die mich so vorbehaltlos angenommen hatte, abzuweisen. Ich sprang plötzlich in die Senkrechte, hob sie auf meinen rechten Arm und küsste sie mit einer Lust, die ich irgendwann einst richtigen Menschenfrauen gegenüber gezeigt hatte.
Ich hatte ihr also mein Ja-Wort gegeben. Nun würde ich dem lebenden See der Legende begegnen, Vielleicht der Landeplatz eines fremdartigen Raumschiffs, viele Jahrhunderte, vielleicht gar Jahrtausende alt. Ich war nun angesteckt von Wroohns Aufregung. Na gut, meine Kleidersorgen beschränkten sich auf die Länge meines Umhanges. Wer weiß, wie die Schla auf männliche Veränderungen in der Öffentlichkeit reagierten. Hatte ich Wroohn zwar schon oft nackt gesehen und wusste demzufolge, dass sie einen Körper wie eine zierliche Menschenfrau hatte – und es lag ja nahe, dass, was ähnlich aussah, auch ähnlich funktionierte, so wusste ich insgesamt doch wenig. Bei den Schla-Männern schien jedenfalls einiges anders zu sein. Da war es bestimmt besser, nicht noch mehr aufzufallen als sowieso schon. ...




Montag, 24. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1524

Oh, wie gut, dass niemand weiß ...?!
Na, man weiß doch, dass "normalerweise" jetzt zuerst die "Gedichte des Tages" vom Folgetag "folgen" und dann eine Fortsetzungsprosa ... und da eine Erzählung begonnen wurde, wird die wohl weitergehen. Es liegt also alles im grünen Bereich:


Woher kommt nur dieses böse Grinsen, wenn sich mir die Frage in die Tastatur mogelt, ob da Thomas Reich mit seiner "Marion" eine konkrete Person gemeint haben könnte? Eigentlich ist es doch egal. Es geht um eine bestimmte Geisteshaltung, die wohl auch "bekannt vorkommt" ...
Es gibt Lyrik-Freaks, denen Gedichte wie "zerbrechlich" gefallen, nicht nur, aber auch, weil sie Interpretationsspielraum lassen. Aber sind es mehr als wenige? Achtung: Es ist ein Liebesgedicht ...

Slov ant Gali: Der lebende See (4)


... Nun waren die Schla zwar nicht die absolute Krönung der Evolution. Eigentlich hinkten sie mindestens Jahrtausende hinter der menschlichen Entwicklung her. Aber dafür, dass sie sich nicht im Kampf ums Lebensrecht hatten anpassen müssen, war ihre relative Intelligenz eine unerklärliche Verschwendung der Natur. Noch dazu, wenn es wirklich nur diese kleine Gemeinde geben sollte.
Ich lernte von Wroohn fleißig die Schla-Sprache, obwohl das Mädchen mich darin nur widerwillig unterrichtete. Sie sagte mir ganz offen, dass ich mich dann ja ohne sie mit anderen aus der Siedlung unterhielte. Wenn ich sie nicht mehr brauchte, würde ich sie nicht mehr wollen. Wollte ich das denn?
In der Argumentation meiner Wroohn schimmerte ein Problem durch: Wenn wir länger eng zusammenleben würden, gäbe es unweigerlich das Problem, dass sie eine Frau und ich ein Mann war und das hieß, dass einer wollen würde, dass wir miteinander täten, was Männer und Frauen, die so eng miteinander sind, eben miteinander tun.
Ich weiß nicht mehr wie, aber bestimmt sehr vorsichtig sprach ich das Thema an und Wroohn schien erleichtert, nun offen mit mir darüber reden zu können.
„Wenn wir miteinander zärtlich sind, dann aber so, dass ich nicht an einem Baby tragen muss. Es würde mich zerreißen. Bei so vielen holt sich der See die Frucht der Schmerzen zurück. Wir sind so gute Freunde. Lass mich lieber weiter an dir spielen, wenn du das jeden Tag brauchst.“
Damit schien für sie die Sache klar. Ich gebe zu, damals verstand ich nur „gute Freunde“ und fand es beruhigend. Über mehr dachte ich nicht nach, denn mich hatte ein Gedanke gepackt, über den ich zumindest im Moment mit niemandem reden konnte: Für die Existenz der Schla-Gemeinde auf diesem Planeten gab es, wenn ich die bekannten Gesetze der Evolution als Maß anlegte, eigentlich nur eine Erklärung: Die Schla stammten nicht von hier. Allerdings verunsicherte mich etwas Anderes: Wenn sie aus einer anderen Welt stammten, dann musste diese andere Welt ja seinerzeit Raumfahrt betrieben haben. Hatten sich die Schla selbst so weit zurückentwickelt? Oder waren ihre Vorfahren eine eigene Gruppe mit einem niedrigen Niveau, die die höhere Zivilisation zum eigenen Schutz zur ungestörten Entwicklung in diese Idylle verbracht hatte? Aber das wäre unverantwortlich gewesen bei einer so kleinen Gruppe. Konnte ich mir die Antwort von den Schla selbst holen? Auf Umwegen? Jede junge Zivilisation hatte ihre Mythen, ihre alten Geschichten. So verworren sie meist waren, … oft fand sich darin der Schlüssel in eine ferne Vergangenheit. Ich musste die Mythen der Schla kennen lernen. Wenn ich von anderen Menschen aus dieser Robinsonade befreit werden würde, hätte ich zumindest den Ansatz für systematischere Forschungen geliefert.
Als ich Wroohn fragte, erlebte ich ein Desaster.
„Was die Alten erzählen, wo wir herkommen? Na, aus dem See des Lebens. Wir sind seine Kinder und er wird uns wieder zurücknehmen, wenn wir nicht mehr gut genug sind, ihm Auge, Hand und Ohr zu sein auf dem Land, wo es nur einmal regnet am Tag.“
Das mit dem Regen war nicht mythologisch. Das hatte ich selbst beobachtet.
Aber dann ergänzte Wroohn: „Du hast deine Kraft, dein Leben, deine Schönheit ja auch aus dem See. Er hat dich mir gegeben und ich bin sehr dankbar für eine so große Gabe.“
Ich hätte fast geheult. Von meiner Schönheit hatte Wroohn gesprochen. Auf der Erde sagte man, Liebe macht blind. Da musste mich dieses Mädchen also sehr lieben. So ganz leicht hätte ich es noch immer nicht über mich gebracht, Wroohni schön zu nennen, aber wenn ich ihr übers Gesicht strich, war ich meiner Männlichkeit sehr dankbar, dass sie für mich sprach.
Andererseits bekräftigte Wroohn meine These. Ich war ja sozusagen von oben gekommen. Meinetwegen aus dem See des Lebens, aus dem der Regen kommt. Ja, ich war damals geneigt, „See des Lebens“ als bildhaften Ausdruck für den Himmel aufzufassen, aus dem die Vorfahren der Schla gekommen sein könnten, nur damit meine Hypothese passte! ...





Sonntag, 23. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1523

Es wird hoffentlich nicht das letzte Gedicht des Tages von Gunda Jaron, das sein Korsett sprengt. Ansonsten folgt die Fortsetzung der utopischen Erzählung ... Ein "normales" Journal also ...


Wo eine Regel ist, sind auch die Ausnahmen. Das gilt auch für Gunda Jarons Gedichte. Wer sich allzu sehr in ihre Schwenks ins Gegenteil veliebt hat, muss dann feststellen, dass sie mitunter auch "nur" am "Korsett" der Konvention zerrt ... "Im Verhältnis ..."
Kann man sich selbst als Zahnbürste und -pasta des Partners in einem empfinden? Wenn nein, geht "Am Ende einer Ehe" natürlich nicht als Gedicht ...


Slov ant Gali: Der lebende See (3)


Aber die Zeit verging im Gleichklang der Eindrücke. Ich war bald wieder so gekräftigt, dass ich auf eigenen Beinen durch die Siedlung laufen konnte. Von wegen Siedlung ... Für irdische Vorstellungen hatte ich bisher nur tropische Wetterverhältnisse erlebt. Der Tagesrhythmus wurde von regelmäßig in der Nachmittagszeit einsetzenden Regengüssen bestimmt. Sie schienen immer gleich lange zu dauern und von der Abendsonne abgelöst zu werden. Der Wind trieb diesen Regen stets schräg von einer Seite vor sich her. Dem hatten sich die Hütten angepasst. Sie bestanden nur aus einem einseitigen Schrägdachgeflecht. Der Weg durch die Siedlung führte im rechten Winkel an den Schrägen vorbei. Ungeniert schauten die Bewohner um die Ecke. Hätten ihre Köpfe geleuchtet … Also zumindest eine gewisse Ähnlichkeit hatten sie mit riesigen Lampions, die böse Geister am Näherkommen hindern sollten.
Wer mag schon gern gemustert werden? Ganz abgesehen davon fühlte ich mich lächerlich. Die hier bekannte Kleidung war ein kaum bearbeitetes Naturprodukt. Ein Farnen ähnliches Gewächs wurde zu einem Umhang geflochten, wenn man sich denn bekleiden wollte. Nun war die Länge der Farne gut für die Maße der Schla - bei mir endeten die längsten Exemplare weit oberhalb der Knie. Immerhin drapierte Wroohn bei den ersten Spaziergängen meinen linken Arm geschickt auf ihren Schultern. Es war das erste Mal, dass mir die Berührung des Mädchens Sicherheit gab. Mir ging durch den Kopf, dass den Schla ihre Proportionen schön vorkommen mochten, ihre Augen, ihre für mein Empfinden übergroßen Facettenaugen in einem zu großen Gesicht ihr Ideal der Schönheit sein mochten. Dann war ich also ein abschreckend hässliches Riesenmonster und meine kleine Wroohn bekannte sich trotzdem tapfer zu mir!
Eigentlich … Nein, es war nicht ein konkretes Erlebnis. Es war die Kraft der vergehenden Zeit, dass der Anblick der Schla allmählich das Abstoßende verlor. Ich konnte inzwischen in Wroohns Gesichtszügen lesen. Ich erkannte Trauer, Freude, Enttäuschung und Zärtlichkeit. Und manchmal konnte ich sie auch schon zärtlich ansehen. Ob sie das erkannte? Ich fragte sie natürlich nicht, denn dann hätte ich ja eingestehen müssen, sie zuvor angewidert angesehen zu haben, und das musste sie nicht wissen.
Das Leben der Schla verlief sehr eintönig. Manchmal überlegte ich, ob ich in ein permanentes Gelächter der Evolution hineingeraten war. Ich hatte vielleicht drei Monate in dieser Gemeinschaft verbracht und noch immer nichts entdeckt, was ich mit dem Wort „Feind“ in Verbindung gebracht hätte. Also es schien außer denen aus dieser Siedlung keine anderen Schla zu geben, aber auch kein Tier, das die Schla gejagt hätte oder das die Schla hätten jagen wollen und können. Ihre Nahrung bestand aus einer großen Zahl von Pflanzen. Zum Beispiel dieses nicht unbedingt angenehme Zeug, aus dem Kleidung und Hütten waren. Das war der faserige Teil jener Pflanze, deren milchiges Fleisch gern verzehrt wurde. Bei manchen Pflanzen wurden die Früchte gegessen, frisch, zu Brei verarbeitet oder mit etwas Saurem haltbar gemacht. Tiere, die die Früchte fraßen und dabei den Samen verbreiteten, fehlten. Aber die Evolution brachte doch nur laufende Anpassungen hervor! Also die Pflanzen passten sich durch Früchte an die Umwelt an, indem sie etwas für Tiere Verlockendes an sich entwickelten, mit dem sie sich selbst an jenen Stellen vermehren konnten, wohin sie sich selbst nicht zu bewegen vermochten. Für wen sollten sich ohne Tiere also die Früchte entwickelt haben?
Und sich selbst bewegende Pflanzen gab es offenbar auch nicht. Allein einige niedliche Insekten kamen als Bestäuber in Betracht. Meist Libellen Dass sich keine Stechmücken entwickelt hatten, war dagegen völlig logisch: Welches Tier hätten sie denn stechen sollen? Und für die wenigen Schla ...



Samstag, 22. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1522

Ein Gedicht von Gunda Jaron zu veröffentlichen ist immer ein heller Tupfer in der Farbskala der "Gedichte des Tages" - selbst dann, wenn sie sie für "rausgekramt" hält.


Vor Gunda Jarons Gedichten muss ausdrücklich gewarnt werden: Meist steht der Anfang nach dem Schluss in neuem Licht dar. Ein so richtig typisches Beispiel für diese Art zu dichten wäre "Was hat sie?"
Die Sprache ist so reich an Nuancen. Geburt und Entbindung bezeichnen erst einmal denselben Vorgang. Sie sehen ihn aber mit anderem Blickwinkel. Während die Feststellung, jemand wird geboren sozusagen einen Anfang bei absolut Null zu beschreiben versucht - für das Neugeborene, so bezieht "entbunden" mit ein, dass da schon vorher ein Band war, das nun in der alten Form gelöst wird. Und von Pflichten entbunden zu werden, hat einen euphemistisch negativen Unterton: Abgesetzt, ungeeignet, degradiert. Dabei könnte es ja auch bedeuten, das zu lösen, an das man bisher gebunden war ...


Die utopische Erzählung ist nirgendwo "rausgekramt" ... die ist wirklich neu ...


Slov ant Gali: Der lebende See (2)


... Tat es und schloss sie sofort wieder. Mich begafften keine Menschen. Das waren … Menschenähnliche? Konnte man so sagen? Ich sah zwei Köpfe vor mir, also eigentlich die Gesichter. Wenn ich mich nicht täuschte, dann waren zwei Wesen neben mir im Raum, beide insgesamt deutlich kleiner und zierlicher als Menschen. Ihre Köpfe aber …
Ich blinzelte, hoffentlich unauffällig. Das Gesicht unmittelbar vor mir konnte sogar das eines Mädchens sein. Zumindest hatten die Züge etwas Weiches. Es war im Prinzip alles da, was auch in einem Menschengesicht zu finden gewesen wäre. Nur war alles etwas zu groß geraten und wurde beherrscht von eben jenen Facettenaugen, die mir im Albtraum begegnet waren. Dagegen wären Froschaugen als schön durchgegangen. Wie kam ich eigentlich auf Facetten? Sicher war nur, dass sie nichts Menschlich-Schönes an sich hatten.
Dann kam der nächste Schock. Jenes Wesen, das ich für ein Mädchen hielt, gab Geräusche von sich. Es klang wie ein an- und abschwellendes Summen. Ich glaubte, lauter Ens und Ems aneinandergefügt zu hören. Das weiter hinten sitzende Wesen summte dem Mädchen etwas zu, woraufhin es noch betonter modulierte. Und endlich begriff ich: Das Mädchen hatte gesprochen! In meiner Sprache! „Ich bin Wroohn. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir Schla meinen es gut mit dir. Der See gab dir dein Leben wieder.“
Als sie noch einmal mit diesen Sätzen von vorn begann, murmelte ich: „Ich verstehe dich. Ich bin Jonathan, John, ein Mensch. Danke!“
So wurde ich aufgenommen in die Gemeinde der Schla, wurde einer der ihren.
Das Schwerste war die Gewöhnung an ihre allgegenwärtige Hässlichkeit. Den zweiten Schla bekam ich zwar auch oft zu Gesicht. Die häufigste Kontaktperson der Schla aber war für mich Wroohn. Im Laufe der Zeit begriff ich, dass sie im Alter war, in dem die Gemeinschaft den Einzelnen ihre Partnerschaften empfahl. Ich war eine besonders schwierige Partnerschaft. Also hatte man der sehr einfühlsamen Wroohn nahegelegt, sich um mich zu kümmern. Ich mochte es kaum glauben, dass das Mädchen mich schon mehrere Wochen lang gepflegt hatte, dass sie mit jeder Kleinigkeit meines Körperbaus vertraut war. Nun, da ich zwar noch extrem schwach, aber schon ein munterer Mann war, dem dies leicht anzusehen und zu begreifen war, kam eine Veränderung hinzu. Es schien dem Mädchen großen Spaß zu bereiten, mich zu waschen und dabei eben jene Veränderung hervorzurufen. Als ich ihr antwortete, dass dies das körperliche Zeichen zur Bereitschaft sei, sich mit einem weiblichen Wesen zu vereinen, stutzte sie. „Und das Zeichen kommt immer so schnell und so oft?“ „Wenn du so handfest damit umgehst, ja ...“ Da lachte sie und erklärte mir, dass die Schla-Männer eines bestimmten Duftreizes bedurften, der von den Frauen aber nur an wenigen Tagen ausginge.
Wir waren eine seltsame Partnerschaft. Dafür, dass ich mich schämte, wenn ich ihr so ausgeliefert war, ihren Blicken und ihrem Zugriff, hatte Wroohn keinen Draht. Und ich wagte keine Andeutung. Immer fürchtete ich, sie könnte mir anmerken, wie viel Abscheu ihr Äußeres als Schla-Mädchen bei mir weckte. Insofern war ich meiner Jugend dankbar, dass der Körper Wroohns zugreifende Reize so sichtbar quittierte. Es war, als ob ich ihr laufend sagte, ich mag dich, und das Mädchen ahnte die Lüge oder sagen wir das Einseitige an dieser Äußerung nicht. ...



Freitag, 21. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1521

So sehr man damit hätte rechnen können: Die Fortsetzung der Sakur-Saga folgt noch nicht, sondern erst einmal die SF-Erzählung "Der lebende See". Keine Sorge: Motive aus dem einen Text werden im anderen auf ... andere Weise behandelt ...
Zuerst aber die "Gedichte des Tages" für morgen:



Mit "selbst verloren" habe ich ein Wagnis unternommen. Ist nach der Bearbeitung, sprich: Kürzung, wirklich noch erkennbar, was ich mit dem Gedicht sagen möchte?
Wer immer "Memories" lesen mag und denken, das sei, oh Schreck, für sie, bedenke: Davor wars geschrieben und gedacht und danach sieht die Welt ja ach so anders aus ... (einen Zeilenbruch nur habe ich geändert ...)
Eigentlich stehe ich hinter beiden Liebesgedichten ...


.

Slov ant Gali: Der lebende See (1)



Erinnerung?
Nein. Eine Katastrophe, ja. Blitzlichter. Bilder ohne Davor und Danach.
Fürs Logbuch nicht verwendbar. Zu viele Lücken. Ich kann sie nicht füllen.
Sollten irgendwann Menschen auf Spuren unseres Untergangs, überhaupt erst einmal auf diesen Planeten stoßen, dann finden sie hoffentlich die Trümmer dieses Raumschiffs. Wenn sie die untersuchen, werden sie rekonstruieren, was wirklich passiert ist. Zum technischen Versagen hätte ich sowieso fast nichts schreiben können. … selbst wenn ich das Logbuch noch fände. Wahrscheinlich traf mich bereits beim Eintritt in die Atmosphäre ein Stoß, der mir das Bewusstsein nahm. Vielleicht hat mir genau das das Leben gerettet. Jedenfalls weiß ich nicht, was die Anderen unternommen haben, bin aber sicher, dass sie nicht mehr am Leben sind. Mindestens einer von ihnen hat mich offenbar gerettet. Bei den ersten Bildern in meiner Erinnerung renne ich wie ein Wahnsinniger. Mein Raumanzug steht in Flammen und die Hitze dringt durch und im Laufen versuche ich, mich auszuziehen, das Feuer abzustreifen. Wie ich auf die Idee kam, hinter mir gäbe es gleich eine Explosion und ich würde nur überleben, wenn ich dann weit genug weg wäre, weiß ich nicht. Auf keinem dieser Erinnerungsbilder trägt oder stützt mich jemand, aber allein kann ich nicht aus dem Raumschiff herausgekommen sein. Ich habe ja eben gerade erst entdeckt, dass das Raumschiff nicht im Orbit geblieben ist, also keine Landekapsel eingesetzt worden ist. Alle heimliche Hoffnung auf schnelle Rettung war also von Anfang an unbegründet. Ich bin doch aber nur ein Mensch mit Hoffnungen bis zum Schluss, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass man noch nach uns sucht und wenigstens andere Erkunder so rechtzeitig auf diesen Planeten stoßen, dass diese Aufzeichnungen noch gelesen werden können. Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Sprache wirklich aufgezeichnet wird, weil keine Wiedergabe möglich ist. Nur der kleine Monitor zeigt Kurven, als sei alles in Ordnung. Sonst ist fast alles zertrümmert. Die Wunderwerke menschlicher Technik sind Schrott, vor allem Elektronikschrott. Vielleicht finden mich gleich die Schla. Und vielleicht vernichten sie alle meine Spuren, die die künftige Harmonie ihrer Gemeinschaft stören könnten.
Dabei …
Wäre es nicht so unwahrscheinlich, … Also ich bin über eine Wiese gerannt. Hinter mir eine Explosion. Wahnsinnige Schmerzen, als ob ich bis auf die Knochen glühen würde. Im ununterbrochenen Rennen, Stolpern, Hinfallen, wieder Aufstehen, Rennen muss ich mir den Schutzanzug heruntergerissen haben und die Unterkleidung gleich mit. Es fühlte sich an, als schälte ich mir die eigene Haut ab. Vielleicht bin ich auch danach noch weiter gelaufen. Aber vor schreiendem Schmerz verlor ich wieder das Bewusstsein.
Dann war da die Vorstellung, ich sei ein Fisch mit glühenden Schuppen, Versunken in Schmerz. Riesige Facettenaugen, die mich anstarrten, mich etwas zu fragen schienen, wovor mich aber die immer wieder schnell einsetzende Bewusstlosigkeit schützte.
Irgendwann hatte ich endlich das Gefühl, ich wachte aus diesen Albträumen auf. Nein. Ich merkte ja, ich lag weich und hatte wirklich geschlafen und nun war es Zeit, richtig aufzuwachen.
Angst. Nur nicht die Augen öffnen. Warum nur war ich so sicher, ich wäre erblindet? Diese Blitze, die Hitze, das war so furchtbar echt. Und etwas stimmte mit meiner Haut nicht. Sie juckte etwas und … sie musste verbrannt sein! Noch immer mit fest geschlossenen Augen begann ich Finger zu bewegen, die Füße, die Arme, die Knie anzuwinkeln. Hatte ich vielleicht doch geträumt? Keine der Bewegungen bereitete mir Schmerzen. Es war nur komisch an der Haut. Als wäre ich in ein Nachthemd aus Seilen eingewickelt.
In diesem Moment drangen Lichtstrahlen an die geschlossenen Augen. Ganz kurz nur. Danach hatte ich den Eindruck, es wäre jemand neben mir. Genauer, es schienen zwei Jemande zu sein. Warum schwiegen sie mich an? Ich würde den Augenblick nicht endlos dehnen können und die Augen öffnen müssen. ...



Donnerstag, 20. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1520

Die "Gedichte des Tages" drehen sich heute nur um eines: um Geld und seine zu brechende Macht. Da könnte man glatt vergessen, dass heute die Vorstellung des Arbeitsstandes zum Romanprojekt endet, jenes utopische Romanprojekt, das inzwischen als erster Teil einer heranreifenden "Sakursaga" firmiert ...


ESM, virtuelles Geld, echtes Geld, Kapital ... Eigentlich müsste ich Sebastian Deya und Thomas Reich dankbar sein für die Anregungen sowohl formale als auch inhaltlicher Art. Auf jeden Fall ist also heute Tag des krank machenden Geldes. Da ist als mir schon FAST gelungen vorkommendes Testgedicht "Irrsinn" zu nennen, aber auch "Moneyjunkie" zehrt vom selben Grundgedanken. Wobei ... beide sind natürlich dem Gedanken geschuldet, mein K-Manuskript mit einem Titel "Gesundet vom Geld" oder "Geheilt vom Geld" zu versehen ....



Slov ant Gali / Gunda Jaron:   

                Ich wurde Gott (180)





... Sie konnte den Körper des Menschen doch nicht einfach den wilden Tieren überlassen! Aber selbst wenn … In der Dunkelheit den Weg durch die Grazzeln zu wagen, wäre glatter Selbstmord. Also warten.
Lujann blieb die Nacht wach. Zeit genug, Freds Worte hin und her zu wenden. Nein. Sie würde nicht so weitermachen wie er. Vielleicht, nein, wahrscheinlich würde sie diese Replikatoren sogar zerstören. Oder vielleicht so aufbewahren, dass sie im aller äußersten Notfall eingesetzt werden könnten. Vielleicht würde sie aber nichts weiter sagen. Wer um etwas nicht weiß, vermisst es nicht. Aber neugierig war sie. So, wie Fred seine Technik beschrieben hatte, gab es dort sicher genaue Aufzeichnungen über alle zurückliegenden und nun nicht erzählten Ereignisse. Es wäre umständlicher, die fehlende Zeit zu befragen, aber möglich. Was war noch alles passiert, was Fred nicht mehr zu erzählen geschafft hatte?

Doch. Die Aufgabe, die Fred sich gestellt hatte, war eigentlich interessant. Wie organisiert man ein glückliches Leben. Wie weit kann so etwas funktionieren? Warum?
Eigentlich musste sie sich vorwerfen, dass sie selbst nicht unschuldig war an Freds falschem Gottsein. Irgendwann hätten sich doch Zweifel einstellen müssen, dass in ihrer Welt etwas nicht stimmte. Dass da ein Geheimnis existierte, das sie hätte lüften können. Sie hatte nicht nur nicht gefragt … Sie hatte es nicht einmal bemerkt! Zur Strafe dafür würde sie mühsam Antworten auf die Fragen suchen müssen, die deshalb erst in den letzten Stunden aufgetaucht waren. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie ein Kleid nach Art der Erde trug. Nach Art der Erde, von der Fred gekommen war. Dessen Bewohner vielleicht ganz anders waren als Fred. Das gehörte zu den Geheimnissen, die sehr wahrscheinlich noch geklärt werden konnten. Entweder lebten noch einige von ihnen oder sie hatten zumindest vieles aus ihrer Vergangenheit an ihre Nachfahren weitergegeben. Bestimmt nicht erst, als sie in den letzten Zügen lagen. Da stand wohl eine abenteuerliche Suche bevor. Lujann glaubte anfangs, dass sie sich gedanklich verzettelt hatte. Dann aber wurde ihr bewusst: So etwas, wie es sich Fred vorgenommen hatte, war einfach unlösbar. Selbst er hatte nicht überall gleichzeitig sein können. Und wenn sie jetzt Freds Menschen suchen sollte, konnte sie nicht nebenbei die Stadt leiten. Und Chrust befreien. Dort herrschte also eine Maschine. Das musste geändert werden. Und es machte die Aufgabe nicht gerade einfacher, dass sie jetzt mehr Hintergründe kannte. Sie war einem solchen Gegner auf keinen Fall gewachsen. Viel Verantwortung für ein so kleines Stück Restleben wie ihres. Hoffentlich lebten noch andere Menschen.

Lujann versuchte sich vorzustellen, was gewesen wäre, wenn sie Fred nicht zufällig hätte davonhasten sehen. In dem kurzen Moment, in dem sich sich hatte entscheiden müssen, waren ihr mehrere Erklärungen für sein Verhalten eingefallen, und nur solche, bei denen es besser war, ihm zu folgen. Flucht?! Auf die Idee, Fred könnte geflüchtet sein, war sie nicht gekommen. Oder … Nein, ob etwas geschehen war … Oder war alles ganz einfach? Hatte sich Fred einfach nur schwer verletzt und das nicht zugeben wollen? Ein Gott verletzt sich nicht?
Wenigstens blieb es bei Geräuschen, Schatten und Bewegungen am Waldrand und Schemen, die die beiden Monde auf die Lichtung malten.
Dämmerung. Welch herrliches Wort! Endlich konnte Lujann sehen. Sie sah sich um, als hätte sie eine mit Albträumen überladene Nacht hinter sich. Einzig der reglose Körper neben ihr zeugte von der Wirklichkeit des vergangenen Tages.
Lujann fröstelte. Sie sprang etwas zu forsch auf. Nein. Diese Situation war nicht normal. Da durfte sie auf den Strauch mit den Stachelarmen zugehen, ohne sich umzuwenden. Nicht schlecht, die Erfindungen dieser Menschen. Lujann strich sich über ihr anschmiegsam weiches Kleid. Jetzt drehte sie sich doch um. Hinter ihr schien nichts Anderes zu sein als feindliches Gestrüpp. Fleisch fressende Tiere würden sich von einer anderen Seite jener Lichtung nähern. Aber das ging sie nichts mehr an. Wichtiger war, wie sie nachher ihrer Tochter erzählen sollte, dass gerade ein Gott namens Fred gestorben war.




Mittwoch, 19. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1519

Tja, diesmal spielt Gunda Jaron in den "Gedichten des Tages" "Eulenspiegel", bebildert, aber auch gereimt, während das Liebesgedicht die "Bebilderung" einer ganz speziellen zwischenmenschlichen Beziehung darstellt:


Wie weit gehen genetische Manipulationen heute? Wie es scheint, hatGunda Jaron gewisse Zweifel an den bisher erzielten Erfolgen, wenn sie in "Wenn ein P auf Reisen geht" den Fortschritt deutscher Landwirtschaft auf einer Ebene mit verunglückter Rechtschreibung sieht. Dabei ... Millionen deutscher Autos suchen einen neuen Besitzer - welcheR ist dein nächsteR? (O-Ton eines Internet-Marktes) ...
Und jetzt wird es schwierig. Eigentlich sollte es nur eine Aufbereitung eines längst geschriebenen Gedichtes für "beinahe Liebe" werden. Dann aber kam mir DIE Streich-Idee und das Verbleibende verblüfft mich selbst: "Innig". Vorsicht: Das ist was Psychologisches ...




Ob sich der Leser überhaupt noch erinnert, wer in dem SF-Romanprojekt "Lujann" war? So oder so wird er plötzlich "aus dem Schlaf gerissen":


Slov ant Gali / Gunda Jaron:   

                Ich wurde Gott (179)





... Es kam ganz plötzlich. Vielleicht hatten beide die ersten Symptome einfach nicht bemerkt. Fred war so in seine Erzählung versunken gewesen, dass er die ersten Schwächeanfälle hatte unterdrücken können. Doch mitten in der vernünftig klingenden Erzählung bäumte er sich auf. Einen Moment schlug er um sich. „Ihr kriegt mich nicht! Keiner! Ich hab das nicht gewollt! Ich bin nicht schuldig! Für euch nicht! Für euch bin ich Gott!“
Lujanns Linke drückte ihn zurück. Im nächsten Moment sah Fred der Frau mit völlig klarem Blick in die Augen. „Lujann? Ich schaff es nicht mehr! Ich hab´s vermasselt. Jemand muss mein Werk weiterführen. Es ist etwas Gutes. Ich … Nein, vielleicht war es genau DAS. Immer habe ich „Ich“ gesagt. Dabei geht es doch darum, dass die Gemeinschaft funktioniert. Bitte! Bitte versprich mir, dass du meinen Platz einnehmen wirst. Und such dir rechtzeitig eine Nachfolgerin für dich! Es ist alles ganz einfach. Ich geb dir den …“ Ein Hustenanfall hinderte Fred am Weitersprechen. Lujann hielt ihn fest. Wartete.
Endlich hatte er sich beruhigt. „Hier, nimm diesen Stick! Richte ihn auf alle Punkte, hinter denen noch etwas Anderes sein könnte außer den Nachbarräumen. Ich versichere dir, überall da wirst du auch wirklich etwas finden. Du kannst mit der Hilfe des Sticks alle Funktionen aufrufen, die ich dir … Lujann frag Anders ...“
Wieder ein Hustenanfall. Lujann sah diesmal nicht hin.
Das Feuer … verdammt, wo sind wir? … Gegensteuern, wie … hätte ich doch nur jemanden geweckt … wie … ich komm nicht hoch … wir stürzen … kein Schwarzes Loch … ich … leben …“
Fred zuckte wie unter Stromstößen. Vergeblich versuchte Lujann ihn festzuhalten. Der Mann machte sich steif. Da … Lujann hätte nie damit gerechnet. Fred stand aufrecht auf der Lichtung. Seine Augen sahen direkt in die violett schimmernde Abendsonne. Sie schienen etwas zu sehen, was außer ihnen niemand je gesehen hatte. Oder vielleicht hatte es nur niemand erzählt. Fred erzählte es auch nicht mehr. Ein unnatürlich glücklicher Ausdruck lag in seinem Blick. Wie ein Baum, bei dem endlich der Keil ausreichte, ihn zu fällen, neigte er sich nach vorn. Lujann hatte sich schon damit abgefunden, einen steifen Körper fallen zu sehen, da brach er in sich zusammen.

Lujann prüfte sorgfältig. Handgelenk, Hals, Atem. Da war kein Leben. Dafür dunkelte es. Nur noch wenige Minuten und sie würde allein den Sternen vertrauen müssen. Mühevoll schleifte sie den leblosen Körper in die Mitte der Lichtung. Sie hatte als Kind die verrücktesten Geschichten über die Urtiere des Sakur erzählt bekommen. Jetzt wurden sie munter. Der vergnügliche Schauer von damals aber stellte sich nicht ein. Es war niemand da, der sie hätte schützen können, und die Geräusche waren real. Was mochte alles an den Legenden wahr sein? Lujann hatte fast nur Tiere zu Gesicht bekommen, von denen sie nun wusste, dass sie von einer fernen Erde stammten, richtiger: aus einem Replikator dieser Erde.
Jetzt aufgefressen werden. Es hieß, Raubtiere rochen den Tod. Der Tod aber lag neben ihr.
Lujann fasste ihren Stab fester. Nur nicht einschlafen! Nur jetzt nicht einschlafen! ...








Dienstag, 18. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1518

Im Romanprojekt zum ersten Teil der Sakur-Saga endet die eigentliche Erzählung des "Gottes" Fred und ... aber das wird erst morgen und übermorgen verraten. Verraten wird dagegen, was morgen als "Gedichte des Tages" vorgestellt wird:

So eine Stopfgans hat etwas für sich: Es geht immer noch etwas hinein. Danke Thomas auch für die Anregung zum zweiten "Gegengedicht": "Stopfganspastete vom Oberdeck". Bei all diesem literarischen Würgfressen hätte ich fast vergessen, dass das Träumergericht noch eine Nachspeise ermöglichte: "Träumer-Rattenschwanz-Strophe" ...



Slov ant Gali / Gunda Jaron:   

                Ich wurde Gott (178)






... Schließlich entschied ich mich wenigstens für eine Nummer 1. Das sollte mein biologisches Geschlecht sein. Meine Fähigkeit, Vater zu werden und zu sein, würde mit meiner Verwandlung in einen alten Mann nachlassen. Also sollte ich, was immer ich dabei erreichen wollte, die Vermehrung zuerst angehen. Das hätte auch einen nicht unwesentlichen Vorzug: Hier ließ sich Nützliches mit dem Angenehmen verbinden. Da ich zumindest für meine 15 Frauen so etwas wie der Hausarzt war, konnte ich mir leicht einen Überblick verschaffen, welche wann die höchste Empfängniswahrscheinlichkeit hatte. Dann würde ich sie beschenken. Schamoui war dabei die ideale Partnerin. Auch wenn mir das mitunter unheimlich war, sie zeigte immer Verständnis, und ich konnte ihr die wahren Ziele meiner erotischen Wechselspiele offen erklären. Also dass ich mit möglichst vielen jungen Frauen Kinder haben wollte. Sie empfahl mir sogar, ich solle Ausschau halten, ob es nicht über die 15 hinaus noch mehr Mädchen gäbe, denen ich meinen Nachwuchswunsch nahebringen konnte. Ich würde also für die großen Mädchen, die den Tropfentag feiern wollten, so etwas wie eine Reihenuntersuchung einführen.
Für Schamoui hatte ich schon eine Aufgabe, die ihr wie auf den Leib geschneidert war: Sie wäre ideal, einer, also genauer: meiner Krabbelkindergruppe als oberste Betreuerin vorzustehen. Die Kinderbetreuung so zu gestalten, wie sie auf der Erde natürlich war, würde am leichtesten sein. Die Saks-Kinder waren an große, sich laufend verändernde Familien-Gruppen gewöhnt. Die würden meine Kinder auch haben.
Dann sollte ich allmählich die durch die Kinder bewirtschaftete Landfläche vergrößern. Richtiger gesagt: Ich nahm mir vor, Siedlungen zu schaffen, in denen die heranreifenden Kinder den Kern bildeten, aber auch Erwachsene aufgenommen werden konnten. So als Großelterngeneration. Als Helfer.
Die Idee verdarb ich mir selbst. Allmählich lösten sich die traditionellen Dorfgemeinschaften auf. Ein Teil suchte Sicherheit als Rentner in der Stadt, manchmal auch ähnlich, wie ich mir das vorgestellt hatte. Der größere Teil wanderte allerdings aus und machte so Platz für das sich ausdehnende Stadt-Land-Gemisch.
Die Gründung moderner Siedlungen war schwieriger als gedacht. Nach der klassischen Lehre der Wetterentstehung hätte es auf diesem Planeten wesentlich weniger und vor allem weniger heftige Stürme geben dürfen. Aber es gab sie nun mal. Sie waren in Frühjahr und Herbst so verheerend, dass es sinnvoll war, die Stadt als Schutz noch mehr auszubauen. Sie lag so dicht an dem Gebirgsmassiv, dass sie den Stürmen wenig Angriffsfläche bot.
Verstehst du: Ich wurde immer sicherer, ein normales, gut geplantes Leben vor mir zu haben. Aber ich hatte Angst. Bisher war immer dann, wenn die Gefahren gerade abgewendet schienen, eine neue aufgetaucht.
Du kennst doch dieses Gefühl, du hast mit deinem Baby gespielt, dein Partner wendet dir alle seine Zärtlichkeit zu und dennoch spürst du, dass es Wesen gibt, die dir schaden können und wollen, dass dein Leben in Gefahr ist. Du weißt es irgendwie … aber es ist so unwirklich, so weit weg. Es kommt nicht an dich heran, du lässt es nicht an dich heran. Und dann plötzlich …



Montag, 17. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1517

Was kann man aus "Stopfgänsen" lyrisch machen? Die morgigen "Gedichte des Tages" machen da ein erstes Angebot. Dazu kommt eine weitere Fortsetzung der Vorstellung des Arbeitsstandes beim ersten Teil der Sakur-Saga - fertig ist ein "Standard-Journal" ...

Diesmal ist es Thomas Reich, der ein lyrischen Bild vorgibt. Die "Stopfgans" steht hier wohl dafür, dass "wir" den Hals nicht voll genug bekommen. Pech oder Glück für ihn, dass er mich mit seinem Bild sofort zum Widerspruch herausgefordert hat. Anlauf eins dabei führte zu "keine Stopfgans" ...



Slov ant Gali / Gunda Jaron:   

                Ich wurde Gott (177)





... Aber ich war doch nicht irgendein Mensch, hatte mir mitten im Festland, an der Grenze zu einem Gebirge, eine Insel mit Einheimischen geschaffen, die ich tatsächlich nach meinem Bilde formen konnte. Meine Frauen. Meine Mädchen. Meine Kinder.
Natürlich hätte ich mein Robbi-Ich auch abschalten können. Aber dann wäre ein neuer Machtkampf ausgebrochen und in nicht zu ferner Zukunft hätte die nächste Armee meine Insel belagert, die Ernte geplündert, wie auch immer.
Ich blieb also. Und ich schob die Entscheidung in Chrust erst einmal auf. So lange mein Doppel dort herrschte, hätte ich hier Frieden.

Kaum, dass ich versuchte zu schlafen, packte mich der nächste Schreck: Meine ganze Welt hier beruhte auf Robbis und Replikatoren und Überwachungsanlagen, durch die in meiner Stadt und um sie herum kein Kaninchenbock seine Zippe unbeobachtet beschnuppern konnte. Wer würde das erben? Wer würde das wie verwenden? Duan war ein Kind dieser Welt. Ich würde die mir verbleibenden Jahre dafür verwenden müssen, meine Gemeinschaft von den Segnungen einer Kultur von übermorgen unabhängig zu machen. Wenn ich nicht mehr war, durfte auch kein Replikator mehr sein.
Wenn ich nicht mehr war …
Diese für mich bis zu diesem Tag undenkbare Formulierung bestimmte nun mein Denken. Dass ich mit meinen Mädchen älter werden würde. Es war wahrscheinlich, dass die Kinder meiner Gemeinschaft deutlich älter würden als ihre Vorfahren. Dafür sorgten die abwechslungsreiche Nahrung und das sicherere Leben, aber astronomisch wäre der Sprung nicht. Ich konnte darauf hoffen, dass ich noch die mir folgende Generation überleben würde. Sozusagen ein Zipfel Unendlichkeit.
Mehrere Tage schwankte ich in meinen Gedanken zwischen dem Horizont eines Gottes und einer Ameise hin und her. Mehrmals begann ich eine Liste der Dinge, die ich in meinem Restleben noch alle schaffen wollte. Dann verfluchte ich die Menschen meines Raumschiffs, die sich über grundlegende Prinzipien menschlichen Zusammenleben hinweggesetzt hatten. Sie hatten mich einfach verurteilt ohne Chance, meine Individualität zu verteidigen, ohne Chance, in die Gemeinschaft der Menschen zurückzukehren, ohne Chance auf den selbst gewählten Platz. Sie waren ja nicht besser als ich. Dann entschuldigte ich sie: Hier herrschten einfach andere Bedingungen, die alle ethische Vernunft der Erde in Unvernunft verwandelte. Sie hatten Recht. Sie wussten ja nicht um die übermenschlich große Aufgabe, die ich mir gestellt hatte. Wäre ich nicht wirklich irgendwann wegen der eintretenden Routine und der ewigen Trauer, die Partner, an die ich mich gerade gewöhnt hätte, wieder zu verlieren, innerlich geistig verfallen? Wenn das passiert wäre, hätte ich es merken und korrigieren können? Und dann ärgerte ich mich über die Temperatur im Lebensmittellager. Und ich wusste auch warum: Die konnte ich ändern. Meine Liste aber verwarf ich mehrmals pro Tag, ohne voranzukommen. ...



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