Montag, 3. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1503


Die 17. „Cita de la Poesia“ ist Vergangenheit, die achtzehnte, 40 Jahre nach dem faschistischen Militärputsch in Chile will vorbereitet sein. „Dichterbegegnung“ in Berlin als Stadt des Friedens – was heißt das?
Erst einmal: Wir nehmen einander an, fragen, wie wir zu einer gemeinsamen Sprache kommen, wie wir die Erfahrungen unterschiedlicher Kulturen für unser aktives Leben nutzbar machen können. Denn darüber gibt es keinen Zweifel: Sowohl die Dichtung als auch die Wirkung von Dichtung ist in Lateinamerika und Spanien eine andere als im beherrschteren Deutschland. Welcher Dichter erwartete schon bei uns, Gedichte in einem vollen Stadion vortragen zu können und Tausende hören ihm teils andächtig, teils begeistert zu? Wie erklärt man Menschen aus Regionen, in denen Dichtung verschlungen wird wie eine Sonntagmittagsmahlzeit, warum die Begegnung der dichtenden Welt in keiner deutschen Zeitung eine Seite-1-Thema ist, ja, nicht einmal Feuilletons füllt? Allerdings sind die Inhalte auch anders gestaltet: In Deutschland scheint der Typ Poet gesiegt zu haben, zu dessen Würde es gehört, dass ihn nur ein elitärer Kreis Auserwählter versteht. Wehe dem Kollegen, der sich mit seinen Wortwerken verständlich politisch bekennt! Das Ziel der Dichter, die uns besuchten in all den Jahren schien immer zu sein, verstanden zu werden – auch, nein, gerade von denen, die kaum ein Gedicht selbst lesen können. Also gibt es auch weder Scheu vor großen Themen noch vor großen Worten. Pachamama, die Mutter Erde, ist allgegenwärtig. Es ist doch das wichtigste Ziel eines Poeten, was hier als Ehrentitel gilt, aufzurütteln, dass die Kinder eben dieser Erde auch in 500 Jahren in Frieden und Dankbarkeit für ihr geschenkte, geborgte Leben miteinander glücklich sind. Es ist doch zu wichtig, zu sagen, dass man das will, und zu fragen, was man tun soll, damit die mit Worten erträumte Welt eine reale Welt werden kann.
Eine andere Kultur … spontaner, preußischer Planungssicherheit entzogener Menschen.
Ja, die Cita hatte einen Plan, um den lange gerungen wurde. Aber in den vier Cita-Tagen fand keine Veranstaltung genau nach Plan statt. Man muss doch zusammen essen, sich vorstellen, nachklingen oder vorklingen lassen, dass Worte wirken können! Wenn es am Vorabend heißt, morgen wird es früh regnen, dann freut man sich, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof die Gräber von Brecht, Seghers und Erich Arendt, dem Spanienkämpfer und Neruda-Nachdichter besuchen zu können. Wenn es am Morgen dann wirklich regnet, dann trifft man sich lieber später zur Textarbeit … nur dass dann das Wetter einer Teilgruppe doch eine kleine Führung erlaubt … Natürlich kann ein Besuch im KZ Sachsenhausen nicht nach Stoppuhr abgehakt werden, dass man rechtzeitig zur nächsten Textarbeit in der Humboldt-Uni ankommen könnte. Was ist wichtiger: der tiefe emotionale Eindruck oder dass die „nächste Stunde beginnt“?
Wirklich nicht im Plan aufgenommen konnte das Kunsthaus „Tacheles“. Dass wieder einmal und nun vielleicht wirklich endgültig ein Alternatives Kunstprojekt von internationalem Rang im Zentrum Berlins dem Profitinteresse eines an der hervorragenden Lage interessierten Investors zu weichen habe, erweckt bei unseren spanisch sprechenden Freunden sofort die klare Aussage, da müssen wir uns solidarisch zeigen. Und zwar handfest praktisch. Die Veranstaltungsorte sind „fußläufig“ nahe gelegen. Also steht nur die Frage, ob man uns denn praktisch (!) hören wird und schon zieht unsere gemischte Gruppe mit einem kleinen Programm von Liedern und spanisch-deutschen Gedichten in Richtung „Tacheles“-Bühne. Die Versammelten dort hat es gefreut, die Entscheidung fürs Geld dürfte es kaum verändert haben, aber die preußisch-deutsche Polizei zeigte sofort ihr Entsetzen: Dass Gedichte, noch dazu spanische auf der Kundgebung vorgetragen würden, war nicht angemeldet worden! Was haben die hier zu suchen? Arme deutsche Staatsgewalt, die nur entscheidet, ob sie unterdrückt, was sie nicht versteht oder als Widerstand verstanden hat …
Lesungen fanden natürlich auch statt – in der Humboldt-Uni und in einem Begegnungszentrum für „ausländische Mitbürger“. Mit viel Herzblut wurde darum gerungen, dass die, die Sprache des Anderen nicht beherrschten, sowohl den Wohlklang der fremden Worte wahrnahmen als auch die Poesie der lyrischen in die eigene Sprache übertragenen Bilder. Die Bildkraft der fremden Sprache in die eigene zu übernehmen war der Kern der gemeinsamen „Textarbeit“.
Wir merkten, wie würden nie fertig. Aber unsere Spanisch sprechenden neuen Freunde wünschten
sich, im nächsten Jahr wieder zu uns kommen zu dürfen und zwischendurch seien auch wir eingeladen. Vielleicht wird es im spanischen Sprachraum auch eine gemeinsame Anthologie mit Werken der Cita in Berlin geben. Aber für Deutschland ist das nicht wichtig … nur Poeten eben ...
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Diesmal sollten die beiden Texte, die unter dem Hut "Gedichte des Tages" vereintpräsentiert werden, Gemeinsamkeiten aufweisen. Ich hoffe, in gewissem, weiten Sinn könnte mir das gelungen sein:
Thomas Reich "Mimikry"
Slov ant Gali "Salzwunden"

Slov ant Gali / Gunda Jaron:   

                Ich wurde Gott (163)



So dachte ich. Aber die Ereignisse belehrten mich eines Besseren. Das Ende der Ernte brachte den Anfang der Auseinandersetzungen. Es begann harmlos. Erste Kinder kamen vom Besuch ihrer Siedlung nicht zurück. Weißt du, bei insgesamt 4000 Kindern dauerte es eine Weile, bis ich das mitbekam. Außerdem gab es ja keine Verpflichtungen, wer bis wann hätte zurück sein müssen.
Doch dann häufte sich das. Und die Auflösung des Rätsels ließ nicht lange auf sich warten. Eines Morgens standen zwei der vermissten Jungen vorm Stadttor und erzählten, dass man sie regelrecht entführt hätte. Das heißt, als sie in ihrer Siedlung aufgetaucht waren, hatte dort sofort der Aufbruch begonnen. Man habe sich auf den Weg zur angestammten Höhle gemacht. Obwohl die Jungen nicht gewollt hätten, hätte man sie mitgenommen.
Ich löste das Problem einfach und radikal. Ich ordnete nämlich an, dass Besuche von nun an nur in der Stadt möglich seien. Die Legenden um die Beobachtungsleistung des Tores tat das ihre. Niemand traute sich eine gewaltsame Entführung oder einen Trick, der dem gleich gekommen wäre. Zumindest habe ich von keinem erfahren, und so wie ich die Saks kannte, hätte sich ein Erfolg schnell herumgesprochen und eine Lawine der Nachahmer provoziert. Die Möglichkeiten zum Mitnehmen der Kinder waren auf nahe Null geschrumpft und die meisten wollten ja auch nicht weg. Dafür geschah das nächste für mich Ärgerliche: Der Ansturm auf die Winterunterkünfte blieb aus. Nach dem ersten Frost waren gerade einmal 240 Erwachsene, meist junge Mütter, drei ganze Siedlungen, in die Stadt gekommen. Es zeichnete sich ab, dass ich in diesem Winter einer Stadt der Kinder vorstehen würde.
Zu meinen Gunsten wirkte dabei nur, dass zwischen den Kindern neue Familienbeziehungen entstanden waren. Dabei schlugen die ursprünglichen Saks-Traditionen durch. Die Siedlungen waren in irgendeiner Weise keine Beziehungen, die auf die Blutsverwandtschaft zum biologischen Vater und der Mutter zurückgingen, wie ich dies von der Erdgeschichte her kannte. Nein, die Siedlungen bildeten offenbar durch Sympathie und Harmonie ihrer Bewohner verbundene Haus-Gemeinschaften. Da hatte ich anfangs schlicht mir Gewohntes in manche Beobachtung hineininterpretiert.
Für die Kinder war es einfach normal, sich Anderen, mit denen sie sich gut verstanden, anzuschließen. Sie hatten auch vorher ihre Familien gewählt. Sie hatten aber den Schutz von Erwachsenen gebraucht. Die Ehre und Verantwortung für die Großen unter ihnen, als erwachsene Betreuer gewählt zu werden, war dann doch etwas Neues, wenn auch nicht ganz so fremd wie von mir zuerst gedacht.
Und noch eine andere Tradition veränderte sich: Nach besagtem ersten Frost hatten eigentlich alle Teens ihre Weihe als Erwachsene bekommen. Jungen und Mädchen begegneten einander als Partner in Liebe. Es hatte mitunter etwas extrem Verspieltes, erinnerte aber an die Eherituale, die mir beim Beobachten meiner ersten Siedlung bereits aufgefallen waren. War dieses gegenseitige Verbeugen mir schon bei den Erwachsenen komisch vorgekommen, so konnte ich mir kaum das Schmunzeln verkneifen, wenn sich Kinder und Jugendliche voreinander verbeugten. Nur die allgemeine Verhütung war neu. Die hatte ich nur nicht für die Feier des ersten Tropfens vorzuschlagen gewagt.





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