Was sollte eigentlich wenigstens einmal im Jahr auf einem Blog veröffentlicht sein, das aus Berlin kommt? Richtig: Eine Berlinerei. Welch Glück: Petra Namyslo gibt uns die Gelegenheit. "Kiek ma!" ist da ihr gedichteter Schlachtruf. Allerdings ... wer mir das Wort "Sonett" in diesem Text erklärt, bekommt einen Zusatzpunkt ...
Immerhin ist es eine Idee, falls die lyrische Litanei zu herbstlich wird: September
Slov ant Gali: Der lebende See (8)
... Mit dem See hatte es eine besondere
Bewandtnis – und zwar eine wirkliche, etwas, was nicht ins Reich
fantasievoller Mythen gehörte. Als ich Wroohn fragte, erklärte sie:
„Der See wird dir das Wissen geben, wovon der See meint, dass es
gut sei, wenn du es hast.“ Inzwischen war ich zwar noch zu sehr
Mensch, um mich damit zufriedenzugeben, aber schon weit genug Teil
der Gemeinschaft der Schla, um zu wissen, dass weitere Fragen nur auf
Ablehnung stoßen würden. Eigentlich wollte ich Wroohn nicht weh
tun, doch ich nahm mir vor, mich heimlich allein auf den Weg zu
machen.
Es kam anders.
15 Tagesstriche auf meinem geheimen
Kalender waren vergangen – ja, ich versuchte, irdische
Zeitbeziehungen zu benutzen, obwohl ich um keine Tageslänge wusste
und für andere Zeiteinteilungen kein für mich nachvollziehbarer
Anhaltspunkt vorhanden war – als uns Geschrei aus der drittletzten
Hütte auf der anderen Seite weckte. Ich wollte zur Hilfe eilen, da
hielt mich Wroohn zurück. „Najolooh schenkt einem neuen Kopf
Licht. Da kannst du nichts tun. Es ist ihr erster Kopf. Die Frauen
werden ihr helfen.“ Und wirklich: Über der Siedlung lag schon
wieder die übliche Stille. Nach einer Weile aber breitete sich ein
seltsamer Klagegesang in der Siedlung aus. Es war unheimlich. Wer
auch immer die Töne hörte, stimmte sofort mit ein. Auch Wroohn. Und
sie sah mich dabei vorwurfsvoll an, warum ich denn dieses Lied nicht
mitsänge. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass anfangs einmal
dieser Gesang zu hören gewesen war, als Wroohn mich gepflegt hatte.
Die Stimmen wurden immer lauter. Plötzlich standen viele Schla um
den Eingang unserer Hütte herum. Die Vorsteherin trat vor.
„Ihr sagtet, ihr seid bereit. Ihr
wollt einen neuen Kopf zu einem reifen Schla pflegen. Ein neuer Kopf
ist allein. Ihr müsst den See fragen. Er wird über euer
Zusammensein entscheiden.“ Dazu ließ sie sich ein Bündel reichen,
das sie an Wroohn weitergab. Die nahm es mit Inbrunst an sich. Aber
es konnten nur Sekunden sein, da zeichnete sich ein großer Schmerz
auf ihrem Gesicht ab. Sie reichte das Bündel mir.
Es war ein Baby. Das hatte ich
erwartet. Es lebte. Das hatte ich fast schon nicht erwartet. Aber
trotz aller Ahnungslosigkeit um die hiesige Biologie beherrschte ein
Gedanke die vielen anderen durch mein Gehirn rasenden: Lange würde
dieses Würmchen nicht zu leben haben. Was immer Babys brauchten …
nichts davon hatte es hier. Insofern verstand ich die Frauen nicht,
was sie ausgerechnet auf mich einredeten. Aber sie wiederholten sich
immer eindringlicher. Schließlich begriff ich: Ich sei größer und
stärker als alle in der Siedlung, vor allem hatte ich längere
Beine. Wenn es ein Wesen rechtzeitig schaffen konnte, das Kleine in
den lebenden See zu tauchen, um es dem Leben zu retten, dann wäre
ich das. Auch Wroohn sprach ähnlich.
Was sollte ich tun? Die ganze Gemeinde
war demselben Aberglauben aufgesessen. Das Baby war nicht zu retten,
wenn die Mutter gestorben war und es nicht durch einen Arzt behandelt
wurde. Wenn ich jetzt aber nichts tat, würde ich verstoßen für
immer. Und noch etwas Anderes entnahm ich den Worten der
Schla-Frauen: Man sei schon mit der Mutter aufgebrochen zum See. Wenn
ich auch nur eine Chance auf Überleben haben wollte, musste ich
rennen, um früher anzukommen. Und ich packte das Bündel, rannte
los. Ich überholte den Trauerzug, an dessen Spitze die – wenn ich
nichts falsch verstanden hatte – verstorbene Mutter auf einer Trage
hochgehalten in Richtung See getragen wurde. ...
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