Freitag, 28. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1528

Mehr als selten taucht zwischen den "Gedichten des Tages" eines in Dialekt auf. Morgen hebt sich der Vorhang für eine Ausnahme. Was mag an der utopischen Erzählung als Ausnahme gelten? Dass es sich lohnt, sie zu lesen, doch hoffentlich nicht, oder?


Was sollte eigentlich wenigstens einmal im Jahr auf einem Blog veröffentlicht sein, das aus Berlin kommt? Richtig: Eine Berlinerei. Welch Glück: Petra Namyslo gibt uns die Gelegenheit. "Kiek ma!" ist da ihr gedichteter Schlachtruf. Allerdings ... wer mir das Wort "Sonett" in diesem Text erklärt, bekommt einen Zusatzpunkt ... 
Immerhin ist es eine Idee, falls die lyrische Litanei zu herbstlich wird: September


Slov ant Gali: Der lebende See (8)


... Mit dem See hatte es eine besondere Bewandtnis – und zwar eine wirkliche, etwas, was nicht ins Reich fantasievoller Mythen gehörte. Als ich Wroohn fragte, erklärte sie: „Der See wird dir das Wissen geben, wovon der See meint, dass es gut sei, wenn du es hast.“ Inzwischen war ich zwar noch zu sehr Mensch, um mich damit zufriedenzugeben, aber schon weit genug Teil der Gemeinschaft der Schla, um zu wissen, dass weitere Fragen nur auf Ablehnung stoßen würden. Eigentlich wollte ich Wroohn nicht weh tun, doch ich nahm mir vor, mich heimlich allein auf den Weg zu machen.
Es kam anders.
15 Tagesstriche auf meinem geheimen Kalender waren vergangen – ja, ich versuchte, irdische Zeitbeziehungen zu benutzen, obwohl ich um keine Tageslänge wusste und für andere Zeiteinteilungen kein für mich nachvollziehbarer Anhaltspunkt vorhanden war – als uns Geschrei aus der drittletzten Hütte auf der anderen Seite weckte. Ich wollte zur Hilfe eilen, da hielt mich Wroohn zurück. „Najolooh schenkt einem neuen Kopf Licht. Da kannst du nichts tun. Es ist ihr erster Kopf. Die Frauen werden ihr helfen.“ Und wirklich: Über der Siedlung lag schon wieder die übliche Stille. Nach einer Weile aber breitete sich ein seltsamer Klagegesang in der Siedlung aus. Es war unheimlich. Wer auch immer die Töne hörte, stimmte sofort mit ein. Auch Wroohn. Und sie sah mich dabei vorwurfsvoll an, warum ich denn dieses Lied nicht mitsänge. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass anfangs einmal dieser Gesang zu hören gewesen war, als Wroohn mich gepflegt hatte. Die Stimmen wurden immer lauter. Plötzlich standen viele Schla um den Eingang unserer Hütte herum. Die Vorsteherin trat vor.
„Ihr sagtet, ihr seid bereit. Ihr wollt einen neuen Kopf zu einem reifen Schla pflegen. Ein neuer Kopf ist allein. Ihr müsst den See fragen. Er wird über euer Zusammensein entscheiden.“ Dazu ließ sie sich ein Bündel reichen, das sie an Wroohn weitergab. Die nahm es mit Inbrunst an sich. Aber es konnten nur Sekunden sein, da zeichnete sich ein großer Schmerz auf ihrem Gesicht ab. Sie reichte das Bündel mir.
Es war ein Baby. Das hatte ich erwartet. Es lebte. Das hatte ich fast schon nicht erwartet. Aber trotz aller Ahnungslosigkeit um die hiesige Biologie beherrschte ein Gedanke die vielen anderen durch mein Gehirn rasenden: Lange würde dieses Würmchen nicht zu leben haben. Was immer Babys brauchten … nichts davon hatte es hier. Insofern verstand ich die Frauen nicht, was sie ausgerechnet auf mich einredeten. Aber sie wiederholten sich immer eindringlicher. Schließlich begriff ich: Ich sei größer und stärker als alle in der Siedlung, vor allem hatte ich längere Beine. Wenn es ein Wesen rechtzeitig schaffen konnte, das Kleine in den lebenden See zu tauchen, um es dem Leben zu retten, dann wäre ich das. Auch Wroohn sprach ähnlich.
Was sollte ich tun? Die ganze Gemeinde war demselben Aberglauben aufgesessen. Das Baby war nicht zu retten, wenn die Mutter gestorben war und es nicht durch einen Arzt behandelt wurde. Wenn ich jetzt aber nichts tat, würde ich verstoßen für immer. Und noch etwas Anderes entnahm ich den Worten der Schla-Frauen: Man sei schon mit der Mutter aufgebrochen zum See. Wenn ich auch nur eine Chance auf Überleben haben wollte, musste ich rennen, um früher anzukommen. Und ich packte das Bündel, rannte los. Ich überholte den Trauerzug, an dessen Spitze die – wenn ich nichts falsch verstanden hatte – verstorbene Mutter auf einer Trage hochgehalten in Richtung See getragen wurde. ...




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