Es wäre wohl ein Wunder, wenn einem Autor nicht irgendwann ein Werk eines anderen in die Hände fiele, bei dem er je nach Temperament unterschiedlich laut zugäbe, es selber geschrieben haben zu wollen. Na gut … dann gehen die Reaktionen schon auseinander: Die einen meinten, dass – hätten sie es denn wirklich geschrieben – sie die folgenden Passagen anders, also besser gemacht hätten, andere wiederum fallen dem Guttenbergismus zum Opfer.
Mir eroberten einige Werke der Sowjetliteratur. Obwohl … zu einigen versuchten mich einst meine Lehrer hinzutreiben ... die musste ich irgendwann viel später erst neu entdecken – Scholochows „Ein Menschenschicksal“ zum Beispiel und „Wie der Stahl gehärtet wurde“. An anderen entdeckte ich beim wiederholten Lesen immer neue im weitesten Sinne „vergnügliche“ Seiten. Zur letzten Gruppe gehörte Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“.
Das Buch war mir bereits zu Jugendzeiten ein besonderer Lesespaß – beim Neulesen war das wieder so … nur z. T. aus anderen Gründen.
Einem Neugierigen der heutigen Generation sei auch das Nachwort Ralf Schröders zur Ausgabe in der „Taschenbibliothek der Weltliteratur“ von 1974 ans Herz gelegt. Das ist ein Genuss für sich … sowohl mit allem, was es sagt, als auch mit dem, worüber es schweigt. Der aufmerksame Leser wird sich allerdings seinen Teil dabei denken, wenn ein Buch, das zu Recht in die National- und Weltliteratur gehoben wird, mehr als drei Jahrzehnte braucht, bis es in seinem „Heimatland“ veröffentlicht wird … und das auch erst einmal nur in einer Literaturzeitschrift …
Worum geht es eigentlich?
Im Moskau um 1930 taucht der Teufel auf, um eine Ballkönigin mit Namen Margarita für eine Art Walpurgisnacht zu gewinnen. Um sich frei im Ort bewegen zu können, quartiert er sich in der Wohnung eines Literaten ein, der ganz „revolutionär“alle christliche Kultur in den Bereich des lächerlich Vergangenen verbannt hat. Das drückt er zu Beginn des Romans dadurch aus, dass er einen Lyriker, der sich Iwan Hauslos nennt, wegen eines Gedichts rügt, das nicht deutlich genug die Nichtexistenz Jesus´ geißelt. Dieser Berlioz wird von der Straßenbahn geköpft, der Lyriker landet im Irrenhaus … übrigens ein Schicksal, das er mit vielen der durch die Teufelsspäße Betroffenen teilt. Während der Begegnung dieser drei wird das erste Kapitel einer Geschichte erzählt, die u.a. Jesus, Levi Matthäus und Pontius Pilatus zusammenführt. Die ist ein in der Moskauer Literatenwelt verrissener Roman eines Künstlers, der dich der „Meister“ nennt, der das Glück hatte, die Liebe einer „Margarita“ zu gewinnen und scheinbar wieder zu verlieren. Diese Liebe aber veranlasst die Frau, alle Tabus zu brechen und sich auf den Satan einzulassen, der eigentlich fast ein richtig Netter ist. Ach ja, die Literatenszene hat eigentlich hauptsächlich Privilegien und gutes Essen im Kopf und das Chaos, das eine Vorführung von „Schwarzer Magie“ in einem Moskauer Variete auslöst, wirbelt so einige heiße Angelegenheiten durcheinander …
Alles verstanden? Nein? Wär´ auch schlimm. Dann wäre nämlich nicht deutlich geworden, dass das Ganze eben keine auf Romanlänge gestreckte Erzählung ist, sondern wirklich eine Verwirbelung von Handlungssträngen.
Bulgakows Roman ist kein einfaches Buch, obwohl es sich größtenteils so lesen lässt. Nachwortschreiber Schröder setzt sich gern mit der hier köstlich benutzten Tradition des grotesken Schelmenromans auseinander. Doch entweder fehlte dem Rezensenten an dieser Stelle die nötige Fantasie, das geistige Substrat aus seinem für ihn und uns „historischen“ Umfeld zu lösen … oder eine äußere oder innere Zensur erlaubte ihm nicht, den nahe liegenden Schluss zu ziehen: Gerade die Scherze, die der Satan mit Künstlernamen Voland im Variete mit den Moskauern trieb, funktionierten eben auch zur Zeit der Rezension … und heute wissen wir, dass diese „Kraft“ die der Geschichte vorauseilende Illusion des realen „Sowjetsozialismus“ überwand.
Welch böse Wahrheit, dass den Schaden aus den Kunstrubelscheinen, die da „vom (Variete-)Himmel regneten“, nicht die erlitten, die sie einfingen, sondern die, die sie danach gutgläubig annahmen. Und der getürkte Modetempel, dank dessen die putzsüchtigen Moskauerinnen fast nackt aus dem Variete traten? Haben wir die frühe Warnung nicht zu gern überhört? Der „Kommunismus“ des Bulgakow war ein intellektuell wissender, kein in revolutionärer Romantik schwelgender. Er wusste einfach, dass sich „die Menschen“ weniger verändert hatten, als wir es gern geglaubt hätten. Und dass sie sich auch weiter nur langsam verändern würden – in Dimensionen von zwei Jahrtausenden vielleicht.
Es war ja nicht nur das Bild von Kunst und Literatur, das geradegerückt werden sollte, von wegen dem kulturellen Reichtum von Jahrtausenden, die es zu bewahren galt, es waren auch die vielfältigen menschlichen Schwächen, die den Scherzen der satanischen Schelmentruppe ausgeliefert wurden.
Und der Roman im Roman?
Was hinter der biblischen Geschichte um die Kreuzigung Jesus´ für reale Ereignisse steckten, werden wir nie erfahren. Bulgakow macht eine normale Geschichte um einen Menschen daraus, der eben vom Guten in jedem Menschen überzeugt ist und der um dessen Verformung durch die Umstände des Lebens weiß. Und noch viel „menschlicher“ wird Pontius Pilatus in seiner Ahnung, etwas zum Guten verändern zu können, zu wollen … und es nicht zu tun.
Ja, natürlich sehe ich das Faust-Motiv als Wesen des ganzen Romanwerks. Aber warum hat das Buch keinen „Helden“? Oder ist das vielleicht die Margarita? Verkörperung bedingungslos hingebungsvoller Liebe? Wunschbild des Autors-Meisters, wie er sich seine Partnerin erhofft hätte, ohne sie auf Erden getroffen zu haben? Nichts Gretchenhaftes haftet ihr an. Keine Angst. Warum nicht zur Hexe werden, wenn´s hilft?!
Zum Schluss geht alles gut aus – wenn man akzeptiert, dass die Brände in der zweifelhaften Wohnung und im Literatentempel zur „Reinigung“ dazugehören.
Ob ich jetzt die Wikipedia-moderne Wahrheit nachlese, welche Schwierigkeiten das Werk hatte, sich in seinem Ursprungsland durchzusetzen? Vielleicht besser nicht. Die faustischen Wahrheiten über die Natur des menschlichen Zusammenlebens wollen etwas Neues für das 21. Jahrhundert. Halten wir uns lieber an die Originale davor … wie eben diesen Bulgakow ...
Wir vergessen natürlich nicht die "Gedichte des Tages" von "übermorgen". Geplant ist dafür das Folgende:
Es soll ja Menschen geben, die bekommen einen Link ... und benutzen ihn trotzdem nicht. Denen hilft vielleicht eine alte Pädagogenregel: Wiederholen, wiederholen ... Also folgt hier als neuer Link auf eines der Ursula-Gressmann-Gedichte für die Poetas del Mundo: ."jahreszeiten"...
Ein Gedicht, für das schon eine spanische Version für eine deutsch-spanische Anthologie in Mexiko vorliegt und das damit wohl seine lange gesuchte Endfassung gefunden hat, ist "Brücke". Trotz aller Schmetterlinge: Bauen wir neue Brücken. Vielleicht tragen sie doch ...
Zum Abschied folgt im Prosateil die gewohnte SF-Geschichten-Fortsetzung:
Slov ant Gali: Liebe Kinder (10)
... Tim deutet auf einen Schlüssel, der steckt. Wer weiß, was da passiert ist. Überhaupt nicht wichtig. Ich habe Angst. Tim ist doch noch nie Auto gefahren. Keine zwei Minuten und der Wagen ist voller Beulen genau wie der vor und hinter ihm. Aber Tim lacht und fährt! „Alles abgeguckt!“ ruft er und ich stelle mir vor, dass wir gegen eine Mauer rasen und dass das ein schöner schneller Tod wäre. Aber Tim biegt ab und biegt nochmal ab. Wir fahren jetzt zwischen vielen Häusern durch, hohen Häusern, gespenstischen Blöcken mit über hundert Fenstern und niemand ist dahinter. Und dann passiert es. Zwischen zwei Blöcken kommt ein Ball auf die Straße geflogen. Hinter ihm her rennt ein Junge, ein schwarzer Wuschelkopf. Tim gibt Gas, reißt das Lenkrad nach links. Es quietscht, scheppert … Dann stehen wir. Ich sag nichts. Tim ist ganz blass. „Die Bremse … Ich hab Gas gegeben … Ist er …?“
Ich mach die Tür auf, seh mich um. Da! Da ist er.
Ich winke.
Langsam kommt er näher, als traute er seinen Augen nicht.
Als er ran ist, murmelt er, starr seine Augen auf mich gerichtet, allerdings laut genug, dass ich es verstehen kann: „Krass eh!“
Und ich frage: „Gibts noch mehr von deiner Sorte?“
„Komm!“ sagt er und winkt. Das gilt nur mir. Tim hat er wohl noch nicht bemerkt. Der hat sich aber inzwischen gefasst. „Eigentlich müsste hier irgendwo so ein Schlauchboot rauskommen. Airbag, weißt du? Zur Sicherheit. Warum ist denn nicht …?“
Es ist mir eigentlich egal, warum der Airbag nicht funktioniert hat. Wichtig ist doch, dass alle heil davon gekommen sind. Und dass wir jemanden zum Sprechen haben.
In der Zwischenzeit kommt ein anderer schmächtiger Junge zum Vorschein. „Ich bin Erkan. Aber du darfst auch Türk sagen. Machen alle. Weil, das ist Viet. Frag ja nicht, wie er richtig heißt!“
Ich stelle Tim vor und mich. Türk gafft mich an, als wäre ich eine Außerirdische. Dabei … er sieht gut aus. Ich schätzte ihn 15 wie Tim. Viet wirkt jünger, aber ich weiß, dass das immer so ist bei den asiatischen Jungen. Zumindest war das wohl früher so.
Wir gehen durch einen Torweg, über einen Hof, den auf allen Seiten Blöcke mit sechs Etagen vom Wind abschirmen. Es schallt irgendwie komisch. Da sage ich lieber nichts. Warte ab. Und dann öffnet Türk eine der Türen und wir kommen in eine echte Wohnung. Nicht geplündert, richtig mit Möbeln. Wohl warm, weil Sommer ist. Und dann … stehe ich plötzlich in einem Zimmer zwischen eins, zwei, vier … sechs Jungen. Tim hat sich nicht reingetraut. Ich kann mir nur zwei Namen auf Anhieb merken: Tom, weil das so ähnlich klingt wie Tim. Aber zum Glück hat der eine fast schwarze Haut außer an den Innenhänden, da werde ich ihn wohl nicht verwechseln. Und einen Ali. Ob der wirklich so heißt? Er ist jedenfalls so ein arabischer Typ.
„Nein. Also so weit du hier läufst, findest du keinen Menschen mehr“, erklärt mir Türk, der wohl so was wie der Boss der Truppe ist. Soweit ich das erkennen kann, sind alle im selben Alter. Die Letzten, die das Sterben noch nicht hinter sich haben. ...
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