Zuerst jedoch ein Blick auf die Gedichte des Tages. Da stieß ich heute auf eine Meldung über eine junge Deutsche, die viele Monate unbemerkt in ihrer Wohnung verwesen konnte. Da mich dies an mein Gedicht "nachbar" erinnerte, schob ich diese Meldung mit dem Verweis auf das Gedicht als Meldung auf das Lyrik-Blog. Nicht lange und Sebastian Deya hatte das folgende Gedicht dazu gemacht:
Im Frühjahr
ein Kopfschütteln
ungekehrte Straße
im Sommer
ein Kopfschütteln
nicht gemachtes Beet
im Herbst
ein Kopfschütteln
überall die Blätter
im Winter
ein Kopfschütteln
nicht geräumter Schnee
Hinter der bröckelnden Fassade
lag dabei das ganze Jahr
ein junger Mensch
einfach am Verwesen
nicht ein Mensch
nicht mal Beerdigung gewesen
unverstellbar, wie einsam sie war
als sie noch lebte
niemand bemerkte sie
kein Mensch
war jemals da
Im Frühjahr
ein Kopfschütteln
Das wollte ich nicht "unkommentiert" lassen. Also erlaubte ich mir ein Gegengedicht ("Dem Mitfühlenden"). Sozusagen "aus aktuellem Anlass" ist also das lyrische Programm geändert worden. Ich würde mir wünschen, dass die Kunst - natürlich nicht allein die, aber es ist halt mein Feld - so lange Mitmenschlichkeit / Solidarität einfordert, bis die Fälle fehlender Solidarität so selten werden, dass man gar nicht mehr hinsehen braucht, weil immer schon jemand da ist, der sich um den Schwächeren nebenan kümmert ...
Nun also zum Groschenroman "Das Bienenprojekt" von Anna Roth:
Unsere Siedlung erreichten die ersten Geschichten von Mörderbienen, da war ich gerade zehn. Sie gingen bei uns um wie solche Geschichten bei Zehnjährigen eben umgehen. Wie eben so eine Art Spiderman in echt. Keiner wusste so richtig etwas, aber alle redeten mit.
Zu dieser Zeit war ich bei den meisten als Schlappschwanz abgestempelt. Ein echter Außenseiter. Mir fehlte all das, was man als Junge haben muss, um in einer Gruppe gut angesehen zu werden – Muskeln, das gewisse Etwas im Gesicht und im Gehabe und eine große Klappe ... und mein Vater war kein echter Farmer. Im Gegenteil: Er war Imker. Mit anderen Worten: Auch er war für die meisten ein undichter schräger Vogel. Die Sache mit den Mörderbienen verschaffte ihm nun einen Ruf, wie ihn den in alten Zeiten die zu Hexen erklärten Kräuterweiber gehabt haben mögen. Dabei war der Job etwas für Trucker. Tagelang war er auf Tour, wenn Bienen zum Bestäuben angefordert wurden. Zu einer Freundin verhalf mir das aber nicht. Mir fehlte nur oft der Vater für ein Gespräch unter Männern.
Meine Position in der Klasse änderte sich schlagartig mit meinem 11. Geburtstag. Peter und sein Clan hatten mich mal wieder in die Mitte genommen. Sie schubsten mich von einem zum anderen, und Schiss war das Wort, das ich am häufigsten zu hören bekam. Peter wollte nämlich, dass ich mich „freiwillig“ mit ihm prügelte, und ich wollte nicht wieder verprügelt werden. Was weiß ich, wie mir dieses „Selber Schiss!“ herausgerutscht war. Jedenfalls sollte ich das begründen, und da behauptete ich, dass ich mir zutrauen würde, nackt vor unseren Bienenwaben zu stehen und er nicht. Das Ergebnis war eine Wette.
Wie wunderten sich meine Eltern, als ich erzählte, dass fast meine ganze Klasse zur Geburtstagsfeier kommen wolle. Sonst war das immer nur ihr Treffen mit den Hannthys gewesen und wir zwei Jungen dienten ihnen als Partyanlass. Diesmal sollten sie nicht einmal mit in den Garten kommen dürfen! Und dann passierte das, was niemand erwartet hatte: Ich hatte zwar Boxershorts anbehalten wegen der Mädchen, aber so fast nackt war ich zwischen die Bienenkörbe getreten und hatte mich wie ein Denkmal zwischen ihnen postiert. Man sah welche auf meinen dünnen Armen landen, und Peter murrte, er sei doch nicht blöd, mir das nachzumachen. Weil ausgerechnet am nächsten Tag eine Meldung im Fernsehen kam, Mörderbienen wären über einen Mann hergefallen und hätten ihn in Lebensgefahr gebracht, war ich der Held der Schule und wurde auch später nicht wieder gehänselt.
Als Junge empfand ich beinahe so etwas wie Freundschaft mit diesen als fleißig bezeichneten Insekten. Sie waren ja sozusagen Streber wie ich. Und dann kamen eines Tages unsere Bienenvölker nicht mehr zurück. Was aus ihnen geworden ist, habe ich nie erfahren. Wir hechelten wochenlang nach konkreten Nachrichten. Doch es gab keine. Dad war schon lange vorher krank gewesen. Er hatte das bis dahin gut vor uns verborgen. Nun aber schien mit den Bienen auch sein Lebensmut verflogen. Ich seh mich noch an seinem Krankenbett stehen und dieses unselige Versprechen abgeben: Ich würde mich weiter um unsere Bienen kümmern. Ich weiß nicht einmal, ob Dad in jenem Moment überhaupt noch daran dachte, dass seine Bienen nicht mehr da waren.
Seine Bitte kam zwischen zwei Phasen, wo er schon geistig weggetreten war. Eine halbe Stunde später hatte er dann aufgehört zu atmen.
Wie sollte ich mein nun einmal gegebene Versprechen denn einlösen? Dass ich unsere Bienen wiederfinden könnte, war mir ja klar. Aber das Problem, warum und wie sie verschwunden waren, war ein allgemeines Geheimnis. Ich entschied mich für ein Studium der Entomologie. Das bewältigte ich so überzeugend, dass ich ein Stipendium vom Arizona Insect Research Institute bekam. So oft meine Zeit es zuließ half ich dort von Anfang an bei praktischen Studien. Manche meiner Kommilitonen hielten mich sicher für einen Streber, manche im Institut für einen nützlichen Idioten, aber insgesamt war ich gut angesehen. Ich gehörte überall dazu. Und meine gelegentlichen Anfälle von Schwermut verbarg ich geschickt. Dafür gab es kaum einen besseren Platz als das Institutsgelände. Es glich am ehesten einem riesigen Sanatoriums- oder Kurkomplex. Backsteinbauten aus imitierter elisabethanischer Zeit inmitten eines von Wanderwegen zu mehreren Froschteichen durchzogenen Parks. So mochte es einst in edlen Gegenden Merry Old Englands ausgesehen haben. In Arizona wirkte es wie irrtümlich eingepflanzt.
Die Anlage hatte allerdings einen nicht unwesentlichen Nachteil: Die einzelnen Sektionen wussten fast gar nichts voneinander. Für jedes Gebäude brauchte man einen anderen Zugangschip und die Codierungen wurde wöchentlich verändert. Mit zwanzig quälte mich natürlich die Neugierde. Was sollte denn an Insektenforschungen so Geheimes sein?
ff
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