Samstag, 31. Dezember 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1254

So sehen Sieger aus. Den größten Erfolg, den hier aktive Blogautoren 2011 zu verzeichnen hatten, kann sich Gunda Jaron anschreiben: Ein "Silberner Lorbeer" für ihr Wettbewerbsgedicht.



Na, haben wir uns Ähnliches vorgenommen? Oder strotzen wir nur so vor guten Vorsätzen? In desillusionierter Selbsterkenntnis habe ich schon für den 2. Januar ein entsprechendes Gedichtchen vorbereitet:


Mit dem, was ich mir vorgenommen,
bin ich nur Stunden weit gekommen.
Der wilde Hengst, gedanklich flott,
verfiel schon in den alten Trott.

Zu Neujahr riss ich Bäume aus .
Nun schrumpften sie auf Spielzeugmaus-
Gewicht und mich, welch Recke,
bringt schon ein Kater leicht zur Strecke.

Was ich als Vorsatz aufgeschrieben
ist aber nicht umsonst geblieben.
Ich heb mir´s auf, ich schwör´s sogar,
als Vorsatz dann für´s nächste Jahr.


Nachdem 2011 - angeblich gegen die Bedrohung der Zivilbevölkerung - ein sich entwickelndes Wüstenland in ein überdimensionales Bombodrom verwandelt wurde mit ein paar Tausend echten Toten und ein paar Hunderttausend Geschädigten, stellt sich die Frage, wer alles 2012 dran glauben muss. Aber wir sind ja weiter  "Auf dem Weg zum großen Frieden ..."
Bleibt noch, sich des Gedichts vom 2.1.2009 zu erinnern:

Ursula Gressmann: fremder Umgebung


Dann sind wir schon bei der Prosa angelangt - und zwat der 51. Fortsetzung des utopischen Romans  "Operation Zeitensprung" von Anna Roth:.


Die Tür zum Beratungsraum ging auf, und ein Mann bat mich zu sich hinein. Er sah aus wie in der Wüste luftgetrocknet, dürr, ledrig und klein. Immerhin lächelte er freundlich zur Begrüßung.
Wenn du in dem Test nicht bewusst falsch geantwortet hast, dann hätte ich drei Angebote für dich: Das eine ist die Leitung eines der Betreuerteams für bemannte interstellare Forschungen, die zweite die Kreativteamleitung Ultraleichtmaterial und die dritte die Kreativteamleitung personengestützte Sicherheitssysteme.“
Ich schluckte kräftig.
Ich glaube, das muss eine Verwechslung sein. Sehen Sie mich an! Sie könnten mich wohl eher für Ihre Enkelin als für Ihre Chefin halten. Meine ganze Mannschaft stammt aus einer Welt, für die alles hier fremd ist. Ich nehme an, Ihr technologischer Entwicklungsstand ist viel zu hoch für uns. Ihre so genannten Angebote haben aber eines gemeinsam: Ich soll etwas bei Ihnen leiten, von dem ich nichts verstehe. Hier Chef sein, nein, das ist bestimmt nicht das Richtige für mich. Wenn Sie nichts anderes anzubieten haben, machen wir einen neuen, späteren Beratungstermin.“
Mir fiel plötzlich auf, dass ich den Mann gesiezt hatte. Ihn schien meine Reaktion nicht zu beeindrucken. Er lächelte weiter.
Ich hätte mich gewundert, wenn du anders reagiert hättest. Aber eigentlich hatte ich auch gehofft, dass du fragen würdest, worum es bei den Aufgaben überhaupt geht.“
Das war ja zum Augen verdrehen.
Also bitte: Worum geht es überhaupt bei den Aufgaben?“
Wir verstehen uns falsch. Leiter, das ist doch kein kommandierender Chef, der alles wissen muss. Das ist eher ein Moderator, der die Gruppe zusammenhält. Etwas, was du oft genug getan hast. Ach, weißt du, probiere es einfach aus. Du wirst sehen, wie es klappt. Ich hätte dir das erste Team empfohlen. Es ist für alle Raumflüge zuständig, ohne selbst zu fliegen. Es wählt Mannschaften aus, formuliert ihre Aufgaben ... Auswertungen, Beobachtungen – also viel Psychologie, besonders deine gruppenpsychologischen Randgebiete – dazu Medizin, Astronomie, Raumfahrttechnik und vor allem ein Mischmasch von Aufgaben, die sich nicht definieren lassen. Du könntest sogar an künftigen Kontakten mit Außerirdischen mitarbeiten. Was wir dir an Detailwissen voraus haben, lass dir infiltrieren. Schon bist du auf der Höhe. Ich sehe da kein Problem.“
Hm. Ich könnte zu den ersten gehören, die möglicherweise Kontakt zu fremden Intelligenzen aufnehmen sollten. Das hatte ich mir als Kind immer erträumt. Ich würde es versuchen. In einer Woche ginge es los. Meine Abschiedsworte kamen richtig entspannt und glücklich.
Vielen Dank!“
Das Männchen strahlte.
Hab ich nicht gesagt, wir finden das Richtige für dich?“
Entschuldigen Sie, nein, entschuldige bitte, das ich so abweisend war. Aber ...“
Ich stockte.
Der Mann klopfte mir auf die Schultern. Wie hatte er sich anfangs vorgestellt? Man Tho? Ich wagte nicht, jetzt danach zu fragen.
Komm wieder, wenn du Probleme bekommen solltest. Dafür bin ich ja da.“
Ich würde mir schon Mühe geben, meine neuen Kollegen nicht zu enttäuschen. So zeigte ich ihm nur den nach oben gestreckten Daumen und verschwand.
Ich fing an von grünen Männchen und siliziten Weibchen zu spinnen, die fern im weiten All in ihrer Sprache „Hallo Anna!“ riefen. Ich schämte mich dafür und tat es heimlich um so öfter.
Unser bisher so tolles Zeitreiseteam brach langsam auseinander. Selbstverständlich unterhielten wir uns darüber, wer welche Aufgabe angeboten bekommen hatte. Ich hörte zu, freute mich mit den anderen, aber ehrlich gesagt lief ich schon Gefahr, die Aufgaben der künftigen Forscher, Betreuer und Wächter zu verwechseln. Ich versteckte mich hinter Floskeln. „Na, wie geht’s?“, „Läuft ´s?“ oder „Bei mir läuft ´s bestens“. Dunkel ahnte ich den Grund. Bisher hatte uns der Kampf gegen immer neue feindliche Umwelten zusammengeschmiedet. Plötzlich war alles ganz anders, und Hartmut konnte sich seine Schachpartnerin frei aussuchen. Das war dann eine Denise, die eine Etage unter uns wohnte. Sie müssen sehr eifrig Schach gespielt haben, denn noch in der selben Woche zog er zu ihr hinunter.
Entschuldigt, Freunde, Deni wäre auch hoch gezogen, aber diese Wohnung ist gerade so überbelegt.“
Weg war er.


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Freitag, 30. Dezember 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1253

"Gedichte des Tages" zu Neujahr?!
Bringt nix - der Kater frisst sie alle. Also lieber ein Hinweis darauf, dass Erinnerungen allein nicht tragfähige Gerüste bilden:



Wir hatten einander
im Blitz,
in dem wir uns
nicht hatten,
und wachten auf
in Erinnerung,
in der wir badeten,
wenn die vielen Alltagswunden
nicht vernarben wollten.


Dazu kommt ein weiteres Testgedicht: "Dem Nebenmann"
und der gewohnte Blick drei Jahre zurück: Warteschleife...

Weiter geht´s mit der 50. Fortsetzung des utopischen Romans  "Operation Zeitensprung" von Anna Roth::

Eine neue Karriere

Das Programm 7000 war eine Art Testfragensystem. Gedruckt hätte es einen gewaltigen Wälzer gefüllt. Aber es wurde direkt über eine Datenfernleitung abgerufen. Den Vorspann fand ich schon einmal lustig.
... und beantworte sie unbedingt vollständig.
Wenn du am liebsten auf alle Fragen
... „g) weiß ich nicht“ oder
h) diese Frage möchte ich nicht beantworten“
antworten möchtest, dann tu das!“
Dann folgten die unterschiedlichsten Komplexe. Interessen, Wissen, Neigungen / Hobbys, Wahrnehmungen, Was-wäre-wenn-Spiele.
Die Esspausen nahm ich nur halb bewusst wahr. Mein Gehirn formulierte eher
Das Grüne links auf dem Teller ist Spinat, das Blassgelbe rechts unten Kartoffelbrei und die dunkelgelbe Iris mit der weißen Bindehaut drum herum ein Spiegelei. Schmeckte dir das Ganze auch, wenn es etwas Anderes wäre? Magst du mit der Gabel in die Iris stechen, damit gleich das Eigelb über den Teller läuft?“
Bei jeder kleinen Pause fühlte ich mich sofort wieder zu dem Test hingezogen. Am Abend hatte ich alle Antworten zusammen. Die elektronische Post konnte abgehen.
Ich bekam als erste aus unserem Team einen Termin für das Auswertungsgespräch. Gleich nach dem Wochenende. Die drei Tage Wartezeit stand ich mit einem sehr flauen Gefühl durch. Als Schülerin hatte es mir selbst vor Prüfungen gegraut, auf die ich glänzend vorbereitet war.
Endlich war es so weit. Ich ließ mich direkt aus dem Schließzimmer in den Warteraum des Beratungszentrums beamen. Nuk hatte mir erklärt, am besten solle ich mich vorher in Starre versetzen. Das stellte sich als eine Art autogenes Training oder Yoga heraus. Ich konzentrierte mich voll auf meinen Körper. Wenn ich bewusst wahrnahm, wie mein Blut durch die Adern strömte, sollte ich kurz nicken, und Nuk würde den Beamer einschalten.
Letztlich war ich enttäuscht. Ich hatte mir diesen Wahnsinnsvorgang, als Körper in einen Energiestrahl und wieder zurück verwandelt zu werden, aufregender vorgestellt. Eigentlich wurde der Yogazustand nur kurz durch ein Kribbeln unterbrochen, als ob viele hauchfeine Nadeln durch den Körper fuhren.
Für diesen Mangel an ungewöhnlichen Eindrücken entschädigte mich der Raum, in dem ich gelandet war. Angenehm klein, indirekt mit gelb getöntem Licht beleuchtet, erwartete mich darin eine Sitzgruppe, ein Bücherregal und ein Dickicht von herabhängenden und hochwuchernden Schling- und anderen Grünpflanzen. Es fehlten nur die Schreie von Papageien oder anderen Urwaldlebewesen. Dann wäre die Tropenillusion perfekt gewesen. Trotzdem beherrschte mich die Sorge, gleich einem menschlichen Raubtier zum Fraß vorgeworfen zu werden. War das meine Welt?


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Donnerstag, 29. Dezember 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1252

Heute steht tatsächlich der Blick auf die Gedichte des Tages von Silvester an. Da haben wir einen besonderen  Gruß von Roger Suffo: "Gesundes Neues Jahr ...".
Aus 2008 stammt

Ursula Gressmann: Stationen

Es gibt aber auch ein schon fleißig bearbeitetes Testgedicht:


Für einen Wimpernschlag
der Ewigkeit
besaßen wir
einander.

Wenn wir uns
fanden,
im Anderen
verloren,
waren wir
geblendet
vom Glück.


Träumend
vom nächsten Versuch
versäumten wir
zu sterben.


Gehen wir romantisch liebend ins neue Jahr ...

Dann verkraften wir auch die Fortsetzungsprosa - nämlich  die 49. Fortsetzung des utopischen Romans  "Operation Zeitensprung" von Anna Roth::


Als wir später auf unsere Zimmer gingen, sprach mich Siegrid an.
Du, Anna, ich finde das ja nicht schlecht mit dem hier Arbeiten. Aber hast du dir auch überlegt, wer von uns was machen soll? Hier läuft doch alles ganz anders als bei uns. Es ist lauter Zeug gefragt, bei dem wir unser Wissen, unser Studium, Erfahrungen, was weiß ich, eben alles, total wegschmeißen können. Für welche Aufgaben sind wir denn geeignet? Oder sollten wir noch einmal die Schule anfangen?“
Etwas verlegen war ich stehen geblieben.
Du Sigi, das habe ich mich selbst schon gefragt. Aber wir gehören hier in eine Familie. Die helfen uns bestimmt. Da wird sich schon etwas finden.“
Das klang sicherer und überzeugter, als ich mich in Wirklichkeit fühlte. Wir waren Exoten in dieser Zeit. Aber schließlich konnten wir uns nicht in einen Schaukäfig stecken lassen – Seht, was es einst für Homo sapiens gegeben hat!
Du hast gut reden. Du mit deinem Psychostudium. Damit stehst du hoch im Kurs. Aber hast du mal daran gedacht, dass andere von uns Sachen gelernt haben, nach denen hier bestimmt kein Schwein fragt?“
Wütend rannte sie davon. Ich überlegte. Nein, tatsächlich. Ich hatte keine Ahnung, welchen Beruf Sigi einmal erlernt hatte. Ich hatte sie für eine Mechatronikerin gehalten. Aber vielleicht war sie gelernte Bankkauffrau und Heinz hatte sie ins Team geholt wie Gunti damals mich? Selbst die, die etwas technisch Praktisches gelernt hatten, standen lauter fremden Mechanismen gegenüber. Wir alle waren geistig Zurückgebliebene für die Menschen dieser Zeit.
Ich sprach mit Mama darüber.
Du hast ja Recht“, beruhigte sie mich. „Im Prinzip. Aber sieh es nicht so streng. Zwei Sachen vergisst du: Ob ihr wollt oder nicht, ihr seht aus wie Jugendliche. Nehmt das doch als Chance an. Man hält euch für Neulinge im Leben. Die Lebenserfahrung, die ihr eurem Äußeren voraus habt, kann euch niemand nehmen. Damit werdet ihr überzeugen. Und Nuk hat dir bestimmt von der Schule erzählt.“
Ich überlegte. Dann fiel es mir ein. Das uns fehlende Spezialwissen konnte unseren Gehirnen direkt infiltriert werden oder wie das hieß. Wir würden also sehr schnell Sachen wissen, die wir jetzt nicht wussten. Ich konnte mich ja erkundigen, wie das genau funktionierte.
Ich mache euch Termine für die EBs, die Einsatzberatungsgespräche. Nuk bringt euch hin. Überstürzt nichts. Aber ihr könnt anfangen, wenn ihr wollt. Setzt euch an den Compi, und fangt an, jeder für sich, das Programm 7000 abzuarbeiten.“



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Mittwoch, 28. Dezember 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1251

Wir sind bei den Gedichten des Tages FAST bei Silvester. Da darf man schon einmal "Denkaufgaben" stellen, die mit Sekt im Blut nicht auflösbar sind:




Hans-Peter führt die neue Flamme ganz ahnungslos in ein Theater,
wo der Herr P. „Faust“ inszeniert.
Zwar wohnt Hans weit in der Provinz und ´s letzte Drama war der Vater,
der ihn zur Klassik ausgeführt …

Jedoch will Hans sich hoch gebildet der Neuen zeigen, rundherum,
wo ´n Anzugtag dazugehört,
dass sie zum Traualtar ihn führt, weil er ganz offenbar nicht dumm,
und wenig bleibt, was an ihm stört.

Der Abend geht dann doch daneben
des Schauspiels wegen, das gezeigt.
Was musst das Paar an Kunst erleben,
wonach die Liebeslust sich neigt?

„Vom Eis befreit sind Strom und Bäche“,
ruft Fausty vor ner Leuchtwand aus:
„Es ist der Umweltsünden Zeche ...“
steht dort: „...grün sieht der Nordpol aus.“

Der Faust ist nackt wie Gretchen stille,
treibt´s pornogleich, mit Viagra-Pille,
auf kahlen Bühnenbrettern wild,
bevor sich Gretchen selber killt.

Und die Moral von dieser Mär?
Mit Klassik kommt Hans nimmer mehr ...


Ein Glück, dass wir wissen, wie Klassik wirklich geht ... oder?
Denn   danach  sind wir immer klüger und verkraften auch ein altes Märchen, neu gereimt: 

 Vom Kater und seiner Frau (norddeutsches Volksmärchen)


Und wir verkraften auch die Fortsetzungsprosa - nämlich  die 48. Fortsetzung des utopischen Romans  "Operation Zeitensprung" von Anna Roth::



Eine besonders interessante Aufgabe haben die Einsatzberater. Das ist ein spannender und komplexer Beruf. Für jeden Arbeitswunsch müssen sie prüfen, was davon sich machen lässt. Da kommen alle Jugendlichen hin, und wer später noch gern weiter arbeiten möchte, dem empfehlen wir nach fünf Jahren, seine Einsatzstelle zu wechseln. Damit er nicht geistig einrostet. Schließlich ist es eine wichtige Lebensentscheidung, ob sich die jungen Lebensgemeinschaften erst einmal ganz der Harmonie und Erziehung ihrer Kinder widmen wollen oder ob sie etwas anders Nützliches tun möchten, weil sie sich dazu nicht geeignet fühlen.“
Hier gibt es also auch Babyjahre?“
Also ich fürchte, ein Achzehnjähriger würde sich ungern Baby nennen lassen.“
Paps merkte an unseren verständnislosen Gesichtern, dass wir ihn nicht begriffen.
Na ja, Es kann doch nicht angehen, dass die Eltern nicht da sind, wenn die Heranwachsenden Hilfe brauchen. Also richten wir alles darauf ein, dass Kindererziehung so lange möglich ist, bis die Herangewachsenen selbst eine Gemeinschaft bilden wollen. Das kann dauern, ist doch aber das Wichtigste im Leben, oder?“
An mehr kann ich mich nicht erinnern. In meinen Gedanken hörte ich Nuk, wie sie mit vierzehn bei Mama und Paps bleiben wollte, und dann sah ich Martina mit Schokolade überzogen vor Paps liegen. Das musste ich alles noch einmal in Ruhe überschlafen.
An diesem Abend lag Nuk schon in ihrem Bett. Ich zog mich aus und legte mich einfach zu ihr. Sofort wurde ich wie ein Teddy umschlungen.
Brauchst nicht zu weinen; ich bin ja bei dir“, murmelte das Mädchen im Halbschlaf. Nicht lange, dann atmete sie wieder gleichmäßig. So schlief auch ich ein.
Am nächsten Vormittag hielt uns Viet einen Vortrag in Systemethik. Wahrscheinlich waren seine Ausführungen interessant. Aber meine Gedanken irrten einfach zu oft ab, um ihm geistig zu folgen. Manchmal wiederum spann ich Viets Faden weiter. Ich fand es faszinierend und verwirrend zugleich, wie viele uns vertraute Arbeiten und Beziehungen plötzlich verschwanden oder sich änderten, weil es hier kein Geld gab. Während Viets Steuerkommandos ein Wirtschaftsschema an der Wand verschoben, dachte ich plötzlich, unsere Zeitreisemannschaft machte gerade alles verkehrt. Viet hatte uns um Fragen gebeten, und ich versuchte, meine Zweifel in Worte zu fassen.
„ ... Du entschuldigst, Viet. Das hört sich alles echt schön an. Aber selbst, nachdem wir das angehört haben – also ich verstehe nicht, wie das praktisch funktionieren kann. In einem bist du auch nicht ehrlich. Wenn ich betrachte, was ihr Wohnung nennt – also wenn das kein Luxus ist! Ihr jagt durchaus einem verschwenderisch guten Leben hinterher. Und dann, ohne Kampf um ein Ergebnis, das jeder schnell in den Händen hält, wofür sollte er dann streben? Du kannst uns noch viele Vorträge halten und durch Werke führen oder so. Also eigentlich, was meint ihr, sollten wir nicht lieber selbst arbeiten? Dann würden wir merken, wie das hier ist. So wie in deinem Vortrag oder ... ich weiß nicht.“
Die anderen stimmten mir zu. Ernst sagte sofort „So ist es“. Auch Viet. Er meinte allerdings noch: „... In zwei Punkten muss ich dir widersprechen: Luxus nenne ich etwas, was einer hat, ohne es zu brauchen, viele andere sich aber nicht leisten können. Platz zum Leben braucht aber jeder, zum Alleinsein und für die Familie. Wo ist da Luxus? Notfalls bauen wir eben ein paar Etagen höher. Und dann: Das ganze Zusammenleben funktioniert bei uns eben gerade deshalb, weil jeder schnell etwas in den Händen hält. Habt ihr etwa Geld gezählt, um es zu zählen? Doch wohl eher, um etwas davon zu kaufen, euch wohler zu fühlen und sicherer, wenn ihr welches hattet, oder? Dieses Gefühl der Zufriedenheit und Sicherheit ist bei uns sofort da. Ohne Schein zwischendurch. Aber das kann man wohl wirklich schlecht beschreiben.“



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Dienstag, 27. Dezember 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1250

Es ist immer spannend, über ein Blog die Entwicklung mancher Autoren verfolgen zu können. Manchmal aber stellt man fest, dass man einen Menschen nicht auf einen Ton festlegen kann. Dies wurde mir bewusst, als ich einen Blick auf die Gedichte von Petra Namyslo im Friedrichshainer Autorenkreis warf. Man kennt ihren leichten Zungenschlag. Sie hat aber auch solches unternommen:

Im blassen Morgenlicht, in den dunklen Raum
verwoben, die Silhouette einer einsamen Frau
am Fenster, den Kopf schlaftrunken im Traum
gefangen, dessen Gespenst, müde und grau,
bettschwer in sein finsteres Versteck schlurft.

Am frühen wolkenverhangenen Himmel kreist
ein schwarzer Vogel, Bote aus einem fernen
Land jenseits der Wolken. Der Weg verwaist,
der sie wegführt, hin zu den silbernen Sternen.
Ach, hätte es wirklich all des Schmerzes bedurft?

Nichts mehr zu fühlen, ohne Furcht, Verlangen
oder Begierde zu sein. Kein Wunsch oder Wille
hält die Frau noch in Raum und Zeit gefangen.
In Gedanken flieht sie weit weg in die ferne Stille,
befreit von dem Dasein, das sie einst bedrückt.

Sie öffnet das Fenster, atmet ein letztes Mal
die frische Morgenluft. Sie breitet die Arme aus.
Und während sie fortfliegt aus dem Jammertal,
weht ihr letzter Atem leise in den Tag hinaus.
Und schon ist ihre Seele Zeit und Raum entrückt.

Petra Namyslo


Hoffen wir also auf die Kraft, das Leben zu durchfliegen. Das probiert jeder lyrische Ikarus auf seine Weise. Im GdT vom 29.12. werden das wahrscheinlich sein:
Gast: Gunda Jaron mit "Eskapaden"
Weihnachtlich und angestaubt: "Festliches Fazit" und  biblisch

Angestaubt ist die Prosa auch schon. Der Verlag hat sie nicht mehr im Angebot. Das weitere Schicksal des Stoffs ist offen .... Hier bei uns also die 47. Fortsetzung des utopischen Romans  "Operation Zeitensprung" von Anna Roth erreicht:


„Am liebsten ließe sich ja jeder hin und her beamen. Aber diese Geräte zur Umwandlung von Körpern in Energiestrahlung und zurück sind aufwendig herzustellen und kompliziert zu bedienen. Vielleicht sind wir mal so weit, dass jedes Haus eine Beamrampe hat, und wenn wir zur Haustür rauskommen, stehen wir in einer Erholungslandschaft. Lacht nicht! Über so etwas diskutieren wir, und viele Menschen arbeiten schon an solchen Projekten.“
Wir hatten gar nicht gelacht. Es mutete einfach nur märchenhaft an. Vielleicht genierte sich Paps einfach solcher Träume wegen.
„Wie viel müsst ihr denn so arbeiten?“
„Hm. Also erstmal weiß ich nicht, was du überhaupt unter Arbeit verstehst. Wir wollen uns durch nützliche Tätigkeiten schließlich keinen unnützen Stress organisieren. Wenn es darum geht, normal zu einer Arbeit zu gehen, haben wir hier einen Vierstundentag und eine Vier-Tage-Arbeitswoche. Es gibt sogar so etwas wie Arbeitspflicht. Fünf Jahre sollte jeder in seinem Leben organisiert gearbeitet haben. Aber Kinderpflege und –erziehung wird auch zu Hause gemacht und geht natürlich vor.“
„Wer Kinder aufzieht, arbeitet also nach eurer Auffassung?“
Martina fragte sicherheitshalber nach. Als Paps nickte, „Und nicht nur sechzehn Stunden die Woche ...“, brummte sie: „Endlich sieht das mal einer ein.“
Wir lachten. Paps aber fuhr unbeirrt fort:
„In Produktionsanlagen läuft die eigentliche Arbeit meist voll automatisch. Die sie überwachen produzieren nicht. Was machen sie also praktisch die meiste Zeit? Sie unterhalten sich miteinander. Trotzdem ist das Arbeit. Televidieren oder lesen von zu Hause aus - damit werden wir klüger und besser. Wozu soll Arbeit denn sonst gut sein? Unsere Familie lebt jetzt für euch und tauscht Erlebnisse mit euch aus. Später machen wir daraus Programme und Artikel für andere. Gut, für fremde Menschen gedachte Unterhaltungs- und Informationssendungen müssen produziert werden. Lustige neue Ideen hat immer mal jemand. Was glaubt ihr, wie viele Geschichten die Leute von ihren Reisen heimbringen. Was die anderen so vorführen möchten! Die schwerste Arbeit ist es da, auszusortieren, was am besten kein anderer zu Gesicht bekommt.“
Nicht nur ich musste lachen. Wir stellten uns die verwackelten Urlaubsfilme der Großtante bei der Familienfeier als öffentliches Programm vor.
„Jeder kann bei uns Unterhaltung und Wissen in die Unterhaltungs- und Datennetze stellen, sich selbst öffentlich darstellen. Unsere Hauptkanäle sortieren und bieten an, was wir für allgemein wichtig halten. Das ist echte Arbeit.


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Montag, 26. Dezember 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1249

Eigentlich war das Gedicht ursprünglich als heiterer Gag für solche Gelegenheiten wie den Jahresausklang des Friedrichshainer Autorenkreises gedacht. Da war es nur die Bedichtung einer männlichen Beschäftigung mit sich selbst unter dem zweifelhaften Titel Romantik vorm Aktfoto. Doch trotz Eintretens der erwünschten Erheiterung bzw. deretwegen hieß es "So geht das ja nun gar nicht". Ergo stelle ich hier eine Hochform der Lürick, das Sonett, zur Schau:



Liege still im Bett und träume
wünsch mir grad, du tätst das auch.
So erwachsen Liebesbäume
himmelwärts, entfernt vom Bauch.

Unsre letzten Liebesschwüre
sind schon lange abgenutzt
und der Liebe Knotenschnüre
sind vom Beten ganz beschmutzt.

Und so schreib ich dir Gedichte.
Was sollt andres ich auch tun.
Welch ein Ende der Geschichte:
Seh den Andren bei dir ruhn.

Huch, wann kommt nur in mein Bett
neues Leben zum Sonett?


Das wird ergänzt durch  Roger Suffo mit seinem späten "Weihnachtsgruß" und 

Ursula Gressmann: Verwischte Konturen

 zu den "Gedichten des Tages" vom 28.12.

Das Journal schließt wieder mit der Abteilung Prosa.  Inzwischen ist die 46. Fortsetzung des utopischen Romans  "Operation Zeitensprung" von Anna Roth erreicht:


Der Thingmann in der Familie
Am nächsten Morgen aber passte sie mich auf dem Flur ab. Sie musste mich die ganze Zeit beobachtet haben, denn ich lief kaum einmal allein durch die Wohnung.
„Gut, bringen wir’s hinter uns. Am besten sofort“, entschied ich. Also zogen wir uns ins Schließzimmer zurück, dem Treffpunkt für Familienmitglieder, die einmal wirklich nicht gestört werden wollten. Kaum hatte sie die Tür hinter uns verschlossen, flüsterte Marti auch schon:
„Du musst mir helfen: Paps baggert mich die ganze Zeit heimlich an. Er will eine Affäre mit mir, dabei hat er doch Mama. Außerdem will ich nicht mit ihm.“
„Ist er denn handgreiflich geworden?“ fragte ich.
Martina antwortete stockend:
„Nein, nicht direkt. Er organisiert nur ständig Situationen, wo wir allein miteinander sind. Dann begrapscht er mich. Und flüstert so ein Zeug, von wegen er möchte mich ans Bett fesseln und mit Schokolade überziehen, damit ich noch appetitlicher ... ach, lassen wir das!“
Sie lief einfach davon. Das war unsere Aussprache. Sollte ich daraufhin etwas unternehmen? Wenigstens wollte ich mich informieren, wie hier mit solchen Problemen umgegangen wurde – wenn es überhaupt ein Problem war. Bis zum nächsten Familienausflug war zwar nur noch eine halbe Stunde Zeit, aber heute würde sich ausgerechnet alles um Paps drehen.
Tatsächlich gab es im Netz Artikel zum „Umgang mit sexuellen Verhaltensstörungen“. Demnach konnten wir eine Art Familienthing einberufen. Der würde Paps eventuell zu einem Therapeuten schicken oder aus der Familie ausschließen, was die höchstmögliche Strafe überhaupt war. Nach erfolgreicher Behandlung suchte ihm der Therapeut eine neue Familie. Hm. So weit war es wohl nicht.
Paps hatte uns erzählt, dass er bis zum Ende des letzten Jahres Abgeordneter des Thing gewesen war. Das Wort kannte ich. Ob das so etwas wie die Volksversammlung der alten Germanen sein solle, hatte ich ihn gefragt.
„Zumindest das Wort kommt daher.“
Heute wollte er uns in den Glaspalast führen, in dem er während seiner Amtszeit gearbeitet hatte. In dem riesigen Bau fänden, so erklärte er uns, regelmäßig große und kleine Sport- und Kulturveranstaltungen statt. Er war mit Than zusammen aufgetaucht. Ich hatte also keine Gelegenheit, ihn unter vier Augen zu sprechen. Dafür erklärte er uns alles voller Begeisterung:
„Hier kommen die verschiedensten Klubs und Gruppen zusammen. Schließlich machen wir hier nicht nur große Politik. Den Schüler solltet ihr mir zeigen, der noch nie hier war. Die meisten finden eine Gruppe nach ihren Vorstellungen. Es gibt wirklich alles. So ganz nebenbei erreichen wir, dass alle gerne Thingfrau beziehungsweise Thingmann werden wollen. Egal, wer welches Problem mit seiner Umwelt hat - er kann es hier zur Diskussion stellen. Wir finden Lösungen. Unsere Leute erarbeiten sich ihr Ansehen durch gute Ideen, die möglichst vielen anderen nutzen. Am häufigsten diskutieren wir darüber, welche Arbeiten wie aufgeteilt werden können. Diskussionen gibt es meist auch darüber, was unsere Kinder und Jugendlichen lernen sollen und wo beziehungsweise wie unsere Transporte lang laufen.“
„Gibt es bei euch demokratische Wahlen?“
Siegrid fragte das mit einem provozierenden Unterton. Als ob es das Wichtigste auf der Welt wäre, einmal innerhalb von Jahren ein Kreuz bei Leuten zu machen, die sich nachher nicht darum scheren, was sie vorher versprochen hatten.
„Jedes Thingmitglied wird alle zwei Jahre direkt in seinem Kreis gewählt und es muss seinen Wählern gegenüber erläutern, zu welchen ihrer Interessen es welche Position im Thing vertreten will. Meinst du das?“
„Zum Beispiel.“
Man sah ihr an, dass sie nicht zufrieden war. Paps aber erzählte weiter: „Meistens werden wir uns ohne Abstimmen Mehrheit gegen Minderheit einig. Gut, beim Transport gibt es oft Streit. Dass wir Taxen an Stelle von Privatwagen einsetzen, wo Liniennetze nicht lohnen, finden alle vernünftig. Sobald es aber darum geht, welche Stationen und Wege ausgebaut werden sollen, müssen wir Kompromisse suchen. Ein Elektrobus könnte ja spielende Kinder gefährden, und die Straße zerstört ein Stückchen der Natur. Also soll nicht gebaut werden. Zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Freunden, Verwandten und Veranstaltungen wollen wiederum alle hinkommen. Dann sollen doch Wege gebaut werden.“
Ich lächelte still. Wenigstens eines der Probleme in dieser Welt war mir nicht fremd.



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