Sonntag, 25. Dezember 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1248

Wenn das Jahr zu Ende geht, neigen auch nicht poetisierte Menschen mitunter dazu, Bilanz zu ziehen. Auf sicher etwas seltsame Weise ist das Folgende eine solche Abrechnung:


Auf der anderen Seite des Landes
erlebten Wasserwerfer
die Illusion
die Menschheit
vor Bahnhöfigkeit zu retten.

Etwas ferner noch
verwechselten Raketen
Wünstenwinderfahrene
Kinder
mit dem Vater
des Grünen Buches.

Auf meiner Balkonbrüstung
spielt mir
ein genmanipulierter Frühling
das Lied vom Leben.
Und ich schreibe und schreibe und schreibe ...

Als "Gedichte des Tages" biete ich übermorgen aber noch mehr an:





Kommen wir zur Abteilung Prosa.  Inzwischen ist die 45. Fortsetzung des utopischen Romans  "Operation Zeitensprung" von Anna Roth erreicht:


Es wurde Werksalarm gegeben. Wir sollten uns in den Zentralraum setzen. Und still staunen. Alle Arbeiter sammelten sich in der Cafeteria. Jetzt erst wurde mir die sonst allgegenwärtige Geräuschkulisse bewusst. Die ganze Zeit über hatte uns ein leises Raunen begleitet. In der Nähe der Fließstraße hatte es ein wenig zugenommen, aber es war immer und überall da gewesen. Nun hatte man die Apparatur abgestellt und plötzlich herrschte Leichenstille.
Paps redete halblaut.
„Mal sehen, ob sich unsere vielen Übungen im Ernstfall bewähren. Jeder bekommt jetzt einen Antipieper. Damit suchen wir an Orten wie hier nach Menschen, wo es so viele ablenkende Strahlen gibt. Seine Sensoren haben eine sehr kurze Reichweite. Im Umkreis von maximal 20 Metern erkennt er einen lebenden Menschen, von dem kein solcher Sensorstrahl ausgeht. Den piept er dann an, und wir haben unsere Maria wieder. Im Märchenwald würden wir Peilgeräte benutzen, weil jeder Vermisste normalerweise einen Sender bei sich trägt. Dort weiß er um die Gefahr und will gefunden werden. Das macht die Suche einfacher.“
Über eine riesige Tafel breiteten sich gerade Striche aus. Sie kreuzten sich und vor unseren Augen wurden daraus zusammenhängende Felder. Von Minute zu Minute mehr. Schließlich leuchtete fast die ganze Tafel. Paps schwieg. Mir war bewusst, was das bedeutete. Als es überhaupt kein unbeleuchtetes Feld mehr auf der Tafel gab, trat der Ingenieur, der uns geführt hatte, auf uns zu.
„Eure Maria ist nicht auf dem Werksgelände. Das tut mir leid. Wir haben die Polizei benachrichtigt. Draußen macht die die Sensorfahndungen.“
Er schien auf eine Bestätigung von uns zu warten. Doch der Mann, den er als unseren Leiter erlebt hatte, Ernst nämlich, war verschwunden. Trotz seiner Masse offenbar ohne, dass irgend jemand bemerkt hatte, wann. Die Sache wurde unheimlich. Plötzlich konnte sich nämlich niemand mehr daran erinnern, dass er überhaupt mit uns im Zentralraum gewesen war. Ich drängte zum Schichtleiter.
„Vielleicht habt ihr etwas übersehen. Wenn wir noch einmal von vorne ...“
„Das hätten wir jetzt sowieso getan. Es ist mir ja alles so peinlich. Wenn ich nur eine Idee hätte, was wir noch tun könnten ...“
Die Idee brauchte er nicht mehr. In der Haupttür stand Ernst. Er hielt Maria in seinen Pranken.
„Chefin?“
Dabei schwankte er ein wenig angetrunken wirkend auf mich zu.
„Ich hab da eine Frage zur Geschäftsordnung. Nämlich, ob ich in unserem Quartier die Patenschaft über meine Rieke übernehmen kann. Sie ist einverstanden. Ich schnarche auch nicht.“
Er sah mich wieder mit seinem schrecklichen Bitte-bitte-Hundeblick an.
„Was meinst du mit Patenschaft? Willst du uns nicht verraten, wo du sie gefunden hast?“
„Aber nur, wenn ihr uns versprecht, dass ihr danach nicht laut werdet!“
„Versprochen!“
Ernst sah mich an, als hätte er Knallfrösche in meinen Taschen versteckt. Gleich würden sie explodieren.
„Also am Ausgang des Werkgeländes ist eine Poliklinik. Rieke wollte zu einem Höhlenforscher. Sie hatte ... also eigentlich, sie hatte keine ... Jedenfalls hat der ihr bestätigt, was wir, also Maria und ich, nicht zu hoffen gewagt haben. Wenn die Zeit ran ist, dann sind wir beide zu dritt, also wir alle zusammen fünfzehn. Tut uns Leid, wir dachten, sie wäre rechtzeitig unbemerkt wieder zurück.“
Ein Augenblick herrschte grüblerische Stille. Ich brauchte einen Moment, um zu erfassen, dass hier jemand eine eigentlich unmögliche Schwangerschaft durch die Jahrhunderte geschleppt hatte. Nicht nur ich. Denn wir brachen unser Versprechen. Wir brüllten wie wahnsinnig. Ich wagte meine Ängste nicht unter die Freude zu mischen. Dieses winzige Wesen hatte drei Transformationen seiner Mutter mitgemacht. Konnte es das überhaupt überstanden haben? Oder lag die Zeit der Probleme hinter uns?
An diesem Nachmittag gab es eigentlich nur eine Frage „Wie war das möglich.“ Hatte sich die Natur selbst geheilt? War vielleicht die Krankheit nicht mit durch die Vergangenheit gereist? Aber der eigentliche Akt musste noch vor unserem Zeitreisestart erfolgt sein. Vielleicht hatten die vielen Veränderungen in Marias Körper das mütterliche Ei und den müden Wanderer zusammengeführt? Eine schlüssige Antwort gab es nicht. Unumstritten war nur, was Ernst als Kommentar zu der Angelegenheit zum besten gab:
„Das haben wir doch gut hingekriegt. Stellt euch mal vor, unser Kind hätte ein halbes Jahr früher angefangen, in Maria zu wachsen: In seinem Ausweis stände als Geburtstag 30. April 1525. Dann wäre es bald 700 Jahre alt!“
Martina hatte mich während unserer Werksbesichtigung angesprochen, ob sie mich einmal unter vier Augen sprechen könnte. Sie habe ein peinliches Problem mit ihrem Gastgeber.
„Gut, heute Abend um neun“, hatte ich ihr zugeflüstert.
Dann aber beherrschte das bevorstehende freudige Ereignis unsere Aufmerksamkeit und ich vergaß Martinas Bitte. Am nächsten Morgen sah sie mich fragend an. Das war alles. So wichtig konnte ihr Problem also nicht sein, dachte ich.



.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Follower