Dienstag, 11. Juni 2013

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1765

Heute beginnt eine neue kleine Erzählung:

Anna Roth: Die Stunde vor dem Suizid (1)

.Das Rechnen war seine Stärke. Auch diesmal stellte er wie ein Buchhalter die Bilanz zum Tag auf:
Mit 48 Jahren sollte ein Mann in seine Situation besser wenig an sein Alter erinnert werden. Wer würde einen Seinesgleichen denn in seiner Firma einstellen? Einen Geistesarbeiter, der für Schwarzarbeit nicht taugte  und der seine Anfangsdienstjahre nach der "Wende" seiner Beliebtheit im früheren DDR-Betrieb verdankte?
Inzwischen waren alle Ostaufbausubventionen inWESTiert. Vorbei und vergessen. Für eine Vorverrentung war Ben aber zweifelsfrei zu jung. Seine Babett war ihm weg-, Arbeitslosengeld ausgelaufen. Bettel-Hartz drohte. Er hatte es beantragt, viele Formulare ausgefüllt mit gewohnter Pedanterie, Belege Kopiert, Begründungen geschrieben. Doch sein Antrag war abgelehnt worden, weil er noch eine Lebensversicherung mit einem ... also mit ihrem zusammengesparten Wert im Verhältnis zu seinen Lebensjahren hätte er sie verkaufen und verbrauchen können. Sollte er diesen Verlust wirklich machen müssen, nachdem die gerade einem Ruhen zugestimmt hatten?
Vielleicht hätte er inzwischen die Kriterien schon erfüllt, nach Geburtstag und gemachten Schulden, aber im Ärger des ersten Antragsverfahrens hatte er zu viele Verdauungsdünste über die Amtsmitarbeiter ausgeschüttet, als dass er sich schämte, neu Betteln zu kommen ... und wer wusste, welchen neuen Ablehnungsgrund die diesmal fanden.
Bens letzten ordentlichen Klamotten stammten noch aus der Zeit seine Ehe mit Babett. Für seinen großen Sohn taugte er nicht einmal mehr als Unterhalt Leistender. Als er seinerzeit arbeitslos geworden war, hatte er sich ausgemalt, endlich wieder mehr jene Dinge zu tun, die er nach der "Wende" zwecks Arbeitsplatzerhalt hinter Überstunden und Heimarbeit zurückgestellt hatte. Konzertbesuche zum Beispiel, in Museen gehen, ins Theater, in Ausstellungen. Mit Freunden etwas unternehmen. Die Hoffnung erwies sich als Trugschluss. Selbst die Fahrt durch Berlin kostete eigentlich schon zu viel Geld, und wer sich von Freunden einladen lies, war frühe oder später dran, auch die bei sich zu bewirten. Also mied er allmählich die alten Bekannten.
Hatte er für irgendwen noch einen Wert? Ihm fiel niemand ein, und nüchtern betrachtet sah es nicht danach aus, dass sich das ändern würde. Was es an Krediten gab, was ausgelastet. Sein verfügbares Barvermögen belief sich im Moment auf genau 110 Euro in Scheinen und großen Münzen. Ben überwand sich, die Centmünzen nicht zu zählen.
Das war der Stand. Diese mikroskopische Barschaft war der Rest eines 30-jährigen Arbeits- bzw. Hätte-gern-Arbeit-Lebens. Zusammengefasst fast nur Soll und kein Haben. War dann nicht vernünftig, ...

***
Neu sind die ausgewählten beiden Gedichte des Tages auch:

Diesmal also eine Kombination, die auf den ersten Blick fast wie eine Wiederholung wirkt. Ein zweiter Meas Wolfstatze (".Die Frucht des Zorns.") wird "gepaart" mit "Partei 3" ... Aber man sieht: Es IST keine Wiederholung ...

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