Samstag, 22. September 2012

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1522

Ein Gedicht von Gunda Jaron zu veröffentlichen ist immer ein heller Tupfer in der Farbskala der "Gedichte des Tages" - selbst dann, wenn sie sie für "rausgekramt" hält.


Vor Gunda Jarons Gedichten muss ausdrücklich gewarnt werden: Meist steht der Anfang nach dem Schluss in neuem Licht dar. Ein so richtig typisches Beispiel für diese Art zu dichten wäre "Was hat sie?"
Die Sprache ist so reich an Nuancen. Geburt und Entbindung bezeichnen erst einmal denselben Vorgang. Sie sehen ihn aber mit anderem Blickwinkel. Während die Feststellung, jemand wird geboren sozusagen einen Anfang bei absolut Null zu beschreiben versucht - für das Neugeborene, so bezieht "entbunden" mit ein, dass da schon vorher ein Band war, das nun in der alten Form gelöst wird. Und von Pflichten entbunden zu werden, hat einen euphemistisch negativen Unterton: Abgesetzt, ungeeignet, degradiert. Dabei könnte es ja auch bedeuten, das zu lösen, an das man bisher gebunden war ...


Die utopische Erzählung ist nirgendwo "rausgekramt" ... die ist wirklich neu ...


Slov ant Gali: Der lebende See (2)


... Tat es und schloss sie sofort wieder. Mich begafften keine Menschen. Das waren … Menschenähnliche? Konnte man so sagen? Ich sah zwei Köpfe vor mir, also eigentlich die Gesichter. Wenn ich mich nicht täuschte, dann waren zwei Wesen neben mir im Raum, beide insgesamt deutlich kleiner und zierlicher als Menschen. Ihre Köpfe aber …
Ich blinzelte, hoffentlich unauffällig. Das Gesicht unmittelbar vor mir konnte sogar das eines Mädchens sein. Zumindest hatten die Züge etwas Weiches. Es war im Prinzip alles da, was auch in einem Menschengesicht zu finden gewesen wäre. Nur war alles etwas zu groß geraten und wurde beherrscht von eben jenen Facettenaugen, die mir im Albtraum begegnet waren. Dagegen wären Froschaugen als schön durchgegangen. Wie kam ich eigentlich auf Facetten? Sicher war nur, dass sie nichts Menschlich-Schönes an sich hatten.
Dann kam der nächste Schock. Jenes Wesen, das ich für ein Mädchen hielt, gab Geräusche von sich. Es klang wie ein an- und abschwellendes Summen. Ich glaubte, lauter Ens und Ems aneinandergefügt zu hören. Das weiter hinten sitzende Wesen summte dem Mädchen etwas zu, woraufhin es noch betonter modulierte. Und endlich begriff ich: Das Mädchen hatte gesprochen! In meiner Sprache! „Ich bin Wroohn. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir Schla meinen es gut mit dir. Der See gab dir dein Leben wieder.“
Als sie noch einmal mit diesen Sätzen von vorn begann, murmelte ich: „Ich verstehe dich. Ich bin Jonathan, John, ein Mensch. Danke!“
So wurde ich aufgenommen in die Gemeinde der Schla, wurde einer der ihren.
Das Schwerste war die Gewöhnung an ihre allgegenwärtige Hässlichkeit. Den zweiten Schla bekam ich zwar auch oft zu Gesicht. Die häufigste Kontaktperson der Schla aber war für mich Wroohn. Im Laufe der Zeit begriff ich, dass sie im Alter war, in dem die Gemeinschaft den Einzelnen ihre Partnerschaften empfahl. Ich war eine besonders schwierige Partnerschaft. Also hatte man der sehr einfühlsamen Wroohn nahegelegt, sich um mich zu kümmern. Ich mochte es kaum glauben, dass das Mädchen mich schon mehrere Wochen lang gepflegt hatte, dass sie mit jeder Kleinigkeit meines Körperbaus vertraut war. Nun, da ich zwar noch extrem schwach, aber schon ein munterer Mann war, dem dies leicht anzusehen und zu begreifen war, kam eine Veränderung hinzu. Es schien dem Mädchen großen Spaß zu bereiten, mich zu waschen und dabei eben jene Veränderung hervorzurufen. Als ich ihr antwortete, dass dies das körperliche Zeichen zur Bereitschaft sei, sich mit einem weiblichen Wesen zu vereinen, stutzte sie. „Und das Zeichen kommt immer so schnell und so oft?“ „Wenn du so handfest damit umgehst, ja ...“ Da lachte sie und erklärte mir, dass die Schla-Männer eines bestimmten Duftreizes bedurften, der von den Frauen aber nur an wenigen Tagen ausginge.
Wir waren eine seltsame Partnerschaft. Dafür, dass ich mich schämte, wenn ich ihr so ausgeliefert war, ihren Blicken und ihrem Zugriff, hatte Wroohn keinen Draht. Und ich wagte keine Andeutung. Immer fürchtete ich, sie könnte mir anmerken, wie viel Abscheu ihr Äußeres als Schla-Mädchen bei mir weckte. Insofern war ich meiner Jugend dankbar, dass der Körper Wroohns zugreifende Reize so sichtbar quittierte. Es war, als ob ich ihr laufend sagte, ich mag dich, und das Mädchen ahnte die Lüge oder sagen wir das Einseitige an dieser Äußerung nicht. ...



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