Ein Blog, das "Gedichte des Tages" heißt und wirklich jeden Tag erscheint, erfasst ein breites Schema von lyrischen Gegenständen und Gestaltungsweisen. Zwei Extreme seien heute "zusammengestellt", also zusammen gestellt. Da wäre Hanna Fleiss, die sich mit "Von Nächten und Lemuren" erneut an ein Shakespeare-Sonett wagt. Dazu oder daneben stellen wir einen Beitrag von Ricardo Riedlinger aus "Mit Blindenhund durchs Liebesland": "Metamorphose 1" ... welch Welten und beides Lyrik...
Vertraut dürfte einem das nachfolgende Klischee vorkommen, ganz Prosa, ganz alt:
Zweiter Frühling
Dieter hatte keine Hemmungen an der
Kasse nach dieser Sexzeitschrift zu fragen, die dort nicht offen
herumliegen durfte. Fast keine Hemmungen zumindest, denn die
Kassiererin hätte er gern auf jenen Seiten wiedererkennen wollen.
Doch er hatte es eilig. An diesem Tag wollte er eine Stunde vor den
anderen den Platz im Büro besetzen.
Dieter zog seine Chipkarte durch die
Stechuhr. Endlich Ruhe. Noch etwas Zeit, ungestört die geilen Seiten
zu genießen. Wenigstens alles kurz überblättern … Doch stopp.
Was war denn das für eine …? Es waren angeblich „ganz private
Leserfotos“, also Leserinnen. Zwar blätterte er weiter, doch immer
wieder kehrte er zu diesem Bild mit dem Vermerk „Zuschriften
erwünscht“ zurück. Es zeigte ein Mädchen von vielleicht 20
Jahren mit langen rotblonden Haaren, das halb aus dem Wasser kommend
leicht verlegen an der Kamera vorbei lächelte.
Dieter schlug die Zeitschrift
entschlossen zu, packte sie in die oberste Schreibtischschublade
hinter das Büroklammerkästchen. Er bedeckte den Schreibtisch mit
Ordnern und Arbeit, die am bevorstehenden Vormittag zu erledigen war.
Er schaltete den Computer an, begann zu schreiben … Doch er konnte
sich nicht konzentrieren.
Schließlich holte er die Seite wieder
hervor, nahm seine Schere, schnitt, nachdem er sich überzeugt hatte,
dass auf der Rückseite nichts Erhaltenswertes stand, den Halbakt aus
und klemmte ihn über das Foto seiner Frau und seine beiden Kinder,
die ihm wie immer vom linken Schreibtischrand her zuwinkten. Dann
rückte er das Namensschild in Goldbuchstaben zurecht, das jedem
Hereinkommenden zeigte, hier beriet ihn „Herr Platte“. ...
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