Donnerstag, 25. April 2013

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1722

Beginnen wir mit der erzählenden Oma, der Erzählung, welche verpflanzten Wurzeln jemanden zum DDR-Bürger gemacht haben können:


Anna Roth: Wurzeln (4)




 Durch das Fenster starrte mich eine große Puppe an. Aber es war keine Puppe. Es war eine an die Oberleitung der Straßenbahn geknüpfte Frau. Im Radio war der Tod des Führers gemeldet worden. Da habe diese Frau in aller Öffentlichkeit aufgeatmet und gesagt, Bei Gott, dann kommt Frieden!
"Zweimal noch hat Gott den Strick reißen lassen", erklärte die Barmherzige Schwester. "Früher hätte das immer Begnadigung bedeutet."
 Doch nun solle ich mir schnell etwas überziehen. Die Kranken würden abtransportiert. In ein kleines Lazarett im Westen. Rehna. Ich solle mich beeilen.
Ich bin rausgerannt. Schnell auf die noch saubere Toilette. Mein leerer Magen gab nur eine saure Brühe von sich. Lange ließ ich kaltes Wasser über mein glühendes Gesicht laufen.
"Danke, Schwester! Hier bin ich meinem Mann wahrscheinlich näher", habe ich ungefähr geantwortet. Gefragt, ob sie nicht jemandem die Nachricht nach Wismar mitgeben könne, ich sei jetzt in Schwerin? Möglich, mein Mann sei noch dort. Ich käme schon zurecht. Sie solle sich um mich keine Sorgen machen.
Die Schwester senkte den Kopf. "Ich muss los. Wenn Sie meine Kusine Grüße bestellen würden? Die wohnt in eine Siedlung am Stadtrand. Sie brauchen nur zu sagen, Sie kämen von mir, dann finden Sie Unterschlupf und Frieden."
Meine Augen brannten, doch das Kleid am Körper war gewaschen, und inzwischen hatten Anwohner die Gehängte abgenommen.
... Weiß ich nicht. Manchmal sehe ich die Gesichter vor mir, als wäre es gestern, und ich höre sie sprechen, und dann wieder ist mir, als wäre es ein selbstgemachter Film.
Für die gehängte Marianne Grunthal haben sie später zur Erinnerung einen Stein neben dem Bahnhofsgebäude aufgestellt. "Sie wollte den Frieden" steht darauf einfach. Die Stelle wurde gut gepflegt. Inzwischen sieht es aus, als wartete man nur darauf, bis die Zeit die Erinnerung wie eine alte Oma zerfallen lässt.
... Ja, spottet nur über mich! Da kommt ihr auch noch hin. Aber seht euch den Stein selbst an. Ein störender Stein des Anstoßes. Bitte haltet ihn in Ehren. Wenn ich mal nicht mehr bin. Mein Grabstein ist nicht so wichtig.
Jedenfalls war es ein strahlend sonniger Frühlingstag, als ich dann das erste Mal unseren Wasserweg entlang gegangen bin. Der Bahndamm roch vertraut nach verbranntem Heu. Wie es eben riecht, wenn das Vorjahresstroh in der Sonne trocknet und vorbeifahrende Züge Funken hineinschmeißen. Rasch ist alles schwarz. Ich kam mir wie zu Hause vor.
In meinem Bauch rumpelte es. Gerlinde wuchs dort seit Vatis letztem Fronturlaub. Hatte wohl Hunger.
Ich fand die Adresse auf Anhieb.Die Siedlung war während des gesamten Krieges von Luftangriffen verschont geblieben.


Nun kann es weitergehen mit einer lyrischen Rückschau in den morgigen "Gedichten des Tages":


Ist es nicht interessant, wenn man darüber nachdenkt, einen Band mit Liebesgedichten herauszugeben, was man vor Jahren einmal bereits herausgebracht hatte? Wenn man Pech hat, fragt man sich, ob man das nicht noch einmal aufgewärmt neu veröffentlichen sollte, wenn man Glück hat, erfreut man sich daran, dass man sich verändert hat (und nennt das dann "Entwicklung"):
"An meine kleine Pferdebremse" (aus "Mit Blindenhund durchs Liebesland")

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