Montag, 29. April 2013

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1726

Nach der heutigen Fortsetzung der Geschichte aus der Geschichte versprechen die "Gedichte des Tages" morgen besondere Leckerbissen. Beide sind auf spezielle Weise sowohl lohnenswert als auch "anders" als erwartet.


Anna Roth: Wurzeln (8)


Die Freude über die Befreiung durch die Amis war verfrüht. Schwerin war schon vorher den Russen zugesprochen worden.
Und dann hieß es plötzlich, die Amis verteilen die gesamten Lebensmittelvorräte Ob sie nun den Russen nur leere Speicher überlassen wollten oder ob sie es auf den Spaß an kriechenden Deutschen abgesehen hatten - erreicht haben sie jedenfalls beides. Die zuerst da waren rafften, so viel ihre Körperkraft erlaubte. Zwar hatte auch ich von der Gelegenheit gehört, aber Gerlinde konnte jeden Tag kommen - da musste ich mich vorsehen. Um mich herum aber rissen sie sich gegenseitig Kartons aus den Händen, Sauerfleisch oder was weiß ich; keiner hat viel auf die Aufschriften geachtet wegen der Eile und weil andere Plünderer den vorderen in den Rücken traten. Die Kleidung zerrissen sie sich gegenseitig, und ein paar Soldaten standen drumherum, ihre Zigaretten schief im Mund, und lachten sich scheckig.
So zog mit den Russen der Hunger ein. Die kamen dann auf unsere Halbinsel. Einquartierungen für Offiziersfamilien.
Wir blieben ein russenfreies Haus.Vielleicht weil Vati sich inzwischen erfolgreich auf dem Schweriner Bahnhof beworben hatte. Als einziger gelernter Bahnbeamter fand er sich plötzlich als Bahnhofsvorsteher wieder. Natürlich stand ihm ein russischer Bahnhofskommandant zur Seite. Igor Sergejewitsch war ebenfalls gelernter Eisenbahner und Vati fand schnell Kontakt zu ihm.
... von wegen verordnete Freundschaft. Bei uns jedenfalls nicht. Die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft blieb dann auch das einzige Politische auf das sich Vati je eingelassen hat. Den Ausweis von 1947 gibt es noch ...
Dann tobte irgendein besoffener Soldat zwischen den Gleisen, gröhlte, verprügelte den Deutschen, der ihn beruhigen wollte, schimpfte ihn Faschist und blieb schließlich zuckend auf dem Hauptgleis liegen.Vati wurde gerufen. Aber was hätte er tun sollen? Er meldete es also dem russischen Kommandante. Unglücklicherweise mit den Worten "Da liegt ein besoffener Russe auf den Gleisen." ...



Es ist in der Kunst so wie im Leben: Dasselbe tun ist in anderer Zeit das Gegenteil geworden. Hanna Fleiss hat das Gedicht "Der Kämpfer" im Stil eines Shakespeare-Gedichts geschrieben. Das Problem: Zu oft ist nach der Zeit des Meisters eben dieser Stil parodisiert und ironisiert worden. Und welch Wunder: Ich weiß nicht mehr, ob die Autorin das Gedicht so weint, wie es da steht, oder als ironisierende Kritik an einem Selbstgerechten. Zu Shakespeares Zeiten hätte diese Frage nicht gestanden ...
Ein im weitesten Sinn vergleichbares Beispiel bietet das heitere Gedicht "Die Wende" von Petra Namyslo. Wäre der Titel-Ausdruck nicht durch die politische DDR-Bürger-Katastrophe vorbelastet, könnte mandas Gedicht als ein heiteres Silvesterspaßgedicht lesen. Eben durch die verwirklichten "blühenden Landschaften, die ganz anders als erwartet aussahen, kann der Text auch als Parabel verstanden werden ... und ich kann mir gut vorstellen, dass die Autorin so meint. Na gut ... den "Ossi" als "Herr mit grauen Schläfen" darzustellen, ist ein zusätzlicher Gag ... aber bei der Überschrift ....

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