Mittwoch, 9. November 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1203

Nein, übermorgen steht nicht ein karnevalistischer 11.11., 11.11Uhr auf der Agenda der Gedichte des Tages. Da geht es ganz normal um den  "versuch"  eines Testgedichts, die Erinnerung an 2008 ( papas pädagogische praxis) und den Herbst:



der herbstwind
stöhnt und heult
rüttelt an den türen
morsche äste brechen
wie ein müdes kind
lässt ihren blütenkopf
die letzte rose sinken
und schmerz und liebe
werden vom schlaf
in das vergessen
hin gesaugt


Dazu kommt die 2. Fortsetzung des Romans "Operation Zeitensprung" von Anna Roth:


... Ich kündigte mich nicht extra an. Gleich am nächsten Morgen fuhr ich in die verträumte Nordmetropole, die aussah wie vor den alten Kriegen. Mit einem Köfferchen in der Handbummelte ich von dem historischen Backsteinbahnhof über den Katzensteg durch die Altstadt, vorbei am Platz der Jugend, wo die Schienen für die einstmals quietschenden Straßenbahnen in Richtung Neustadt sich ins Pflaster eingegraben hatten, bis zu den Bürgervillen am Ostdorfer See. Ich trat durch den Vorgarten an das Klopfertor. Hier hatte sich seit über 200 Jahren nichts verändert. Alles war alt und gepflegt. So wie ich es aus meiner Kinderzeit kannte. Auch die letzten sieben Jahre waren spurlos an den Häusern vorübergegangen. Ich drückte den Klopfer wie früher zweimal lang, zweimal kurz und wieder zweimal lang herunter.
Mir öffnete ein bleicher, leicht gebeugter alter Mann. Ich grüßte mühsam beherscht mit "Hallo!" und quälte mir ein freudiges Lächeln ins Gesicht. Meinem Vater hingen Strähnen halb gelichteten, aschgrauen Haares über Ohren und Stirn. Ein Bart kräuselte sich ungepflegt. Dads Augen waren braun wie damals, aber das vertraute Funkeln darin war nun staubig matt.
Er dirigierte mich in den Salon. Wenigstens die ausladende Geste dabei hatte sich erhalten.
"Anna, es tut mir Leid. Ich hätte dich nicht hierher einladen sollen."
"Ich kann ja wieder gehen ...."
Dad hatte sich noch nicht gesetzt, ich war wieder aufgesprungen.
"Ich wiß nicht, in welcher Scheiße du steckst, aber ich darf dich nicht noch in meine hineinziehen."
Das Wort Scheiße aus seinem Mund! Ich starrte ihn stumm an. Setzte mich wieder. Sah ein Bild aus der Erinnnerung auftauchen. Ein eingefrorenes Gesicht, voll Hoffnungslosigkeit. "Du wirst deine Mutter nie wiedersehen." Sah mich auf ihn zu gehen, ihn umarmen, hörte mich sagen, "Dann pass ich auf dich auf!". Ich hatte es ernst gemeint, damals mit meinen acht Jahren. Später ließ ich ihn ohne Frau zurück. Und jetzt hatte ich keine Ahnung von seinen Problemen.
"Ich hör dir zu. Bitte erzähl!"
Dad schüttelte den Kopf. "Nein. Du zuerst."
Wie ähnlich wir uns waren. Meine Neugierde war zwar geweckt. Aber vor mir würde er garantiert nichts erzählen ...

Zum Schluss eine Info für Freunde der Wortkultur:

Der Konkursbuchverlag Claudia Gehrke plant ein Konkursbuch zu einem Thema, das mitten in jeder Gesellschaft seinen Platz hat: Außenseiter.
Menschen werden von anderen Menschen wegen Behinderungen, besonderer Begabungen, ihres Aussehens, sexueller Neigungen, religiöser Zugehörigkeiten und anderen vom anerkannten Üblichen oder auch vom Trend abweichenden Merkmalen und Eigenheiten ins Abseits gedrängt. Außenseiter zu sein bedeutet, Stigmatisierung in Form von Ablehnung, Feindseligkeit, Mobbing und anderen ausgrenzenden, strafenden Tätlichkeiten durch Mitmenschen zu erleben. Tatorte sind die Schule, das Dorf, der Kiez, die Arbeitsstelle, die Straße, die Familie. Außenseiter im Getriebe der Bildenden Kunst, der Literatur, der Musik, des Theaters. Außenseiter im Tierreich.
Was ist eigentlich für die anderen so interessant an Außenseitern?
Wie erleben Außenseiter ihren Status innerhalb der Gruppe?
Wie definiert sich, was als das Gängige angesehen wird, wie und worin zeigt sich die so genannte Normalität? Sind Normalität und Unauffälligkeit identisch? Welche Abweichungen vom Üblichen und/oder Geforderten werden von den anderen geduldet, welche ausgegrenzt, in welchen Epochen, welchen Staatsformen? Warum werden Andersdenkende und kritisch Denkende in Diktaturen verfolgt und eingesperrt?
Abgrenzung zwischen Einzelgänger und Außenseiter.
Die Macht der Redewendung „Das macht man nicht.“
Verweigerung: Bewusst gewählter Außenseiterstatus.


Erwünscht sind Beiträge aus allen Sparten der schriftlichen Äußerung: Lliterarische, poetische, essayistische, wissenschaftliche und persönliche Texte. Und, nicht zu vergessen, Bildmaterial zum Thema!

Texte bitte per Post (nicht per E-Mail) senden an
Sigrun Casper, Pariser Straße 41, 10707 Berlin.
Fotos, Zeichnungen, Bilder postalisch oder als E-Mail an: sigrun.casper et gmx.de

Einsendeschluss ist der 30. Juni 2012

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