Gunda Jaron
Ambivalent
(3)
Pierre wickelte eine Strähne meiner langen dunklen Haare um seine Hand und bog meinen Kopf ein wenig nach hinten, um mich besser küssen zu können. Und küssen, oh ja, küssen konnte er wie kein Zweiter, mein Pierre, Franzose eben. Er tat es mit viel Raffinesse und Leidenschaft. Aber leider auch mit viel Spucke. Er wusste, dass ich es gar nicht gern hatte, auf diese Weise geküsst zu werden. Sie verstehen schon, so, dass man angeekelt die Luft anhält und sich hinterher nach einer ausgiebigen Dusche sehnt. So küsste Pierre. Obwohl er sich darüber im Klaren war, dass ich das absolut nicht leiden konnte. Aber – ich glaube, ich sagte es bereits – es war ja unser letzter gemeinsamer Abend, und so blieb ich stumm. Wie hätte ich auch reden können, wenn er mir seine Zunge tief in den Rachen stopfte und gleichzeitig schätzungsweise ein halber Liter Verdauungssäfte den Besitzer wechselte? Eben. Ich hasse es, auf diese Art geküsst zu werden. Ich hasse es abgrundtief. AB – GRUND – TIEF! Besonders, wenn mir vorher so ein muskelbepackter, grenzdebil grinsender O-I-Student namens Pierre „Chérie“ ins Ohr geflüstert und mein Haar zerzaust hat. Aber wenn man verliebt ist …
Inzwischen war die Sonne untergegangen, nicht ohne vorher die Kuppel unseres Rathauses in ein zauberhaftes, rot-goldenes Licht getaucht zu haben. Die Tauben hatten sich hinter einem Schornstein zur Ruhe begeben, und auch unser letzter Abend zu zweit war zu Ende.
Ja, so war das, Frau Kommissarin. Ach, ich wünschte, Sie hätten Pierre gekannt, als er noch lebte. Er hätte Ihnen gefallen. Ehrlich, ein Prachtexemplar von Mann. Wenn er nur nicht solche seltsamen Eigenarten gehabt hätte. Sie müssen zugeben, dass die einen triftigen Grund dafür lieferten, dass dieser bewusste Abend unser letzter gemeinsamer sein würde, nicht wahr? Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen? Ach, ein langes dunkles Haar in seiner rechten Hand? Tss, ich sagte ja, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn mir jemand das Haar zerzaust. Auf den Tod kann ich es nicht ausstehen. Auf den Tod nicht ...
***
.
Die "Gedichte des Tages" sehen morgen folgendermaßen aus:
Als ein Zirkelleiter (wohl zu Recht) befürchtete, seine beabsichtigte vernichtende Kritik würde nicht verstanden werden, erzählte er die Geschichte, der große Walter Victor habe ihn einst als jugendlicher Schreibeleve zum Gespräch eingeladen. Den ihm zugeschickten Text habe er mit den Worten zurückgegeben, man müsse nicht zu allem etwas schreiben wollen.
Ich hoffe, sowohl das Testgedicht "Bedenkliches Fundament" verdient diese "Zusammenfassung" nicht ... und das fertige Buch mit Liebesgedichten erst recht nicht. Aber Selbstzufriedenheit ist trotzdem nicht angebracht - alles kann "man" besser ...
Manchmal ist ein Gedicht nur ein Gedankensplitter, ein Augenblicksgefühl auf wenige Worte verdichtet, und es kann doch gleichzeitig der "Beginn eines Romans" sein. Aus:
.
.
.
.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen