Dienstag, 2. August 2011

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1103

Nummer 6 unter den am besten bewerteten Teilnehmern am Friedenslesungswettbewerb 2011 ist


Heidrun Schaller: Ravensbrück I + II



Die "Gedichte des Tages" vom Donnerstag sind  Sebastian Deya "Reichtum der fickt" und Hanna Fleiß: Nacht
und natürlich


nachbar


immer morgens zwischen
sieben uhr fünfzehn und
sieben uhr dreißig
verließ er das haus
steckte antworten
in den kasten
auf nie erhaltene grüße
arbeits-lose
arbeitstage
brauchen
ihre ordnung

irgendwann
nicht mehr

endlich
sein verwesungsgeruch
fiel auf


Weiter mit Prosa:

"Uljanas New Home"


13. Fortsetzung

Tag 24
Es war das Verrückteste, was wir bisher miteinander erlebt hatten. Eigentlich war nichts. Aber schon beim Aufstehen geisterte der Gedanke durch unsere Köpfe: Welche Frage wir auch haben sollten, wir konnten von nun an zumindest vorerst nicht mehr uns in die Schaltzentrale hinstellen, „Computer ...“ rufen und eine Antwort erwarten. Also ich vermisste diese Möglichkeit sofort ­ so sehr ich mich vorher mitunter über die Antworten geärgert hatte.
Bei unseren Frühstücksbestellungen merkten wir dann mit lachenden und heulenden Augen, dass der eine verbliebene Replikator eine akustische Macke hatte: Er ignorierte alle i-Laute, richtiger alle Begriffe, in denen i-Laute vorkamen und ü war für ihn auch ein i-Laut. „Milch“ gab es also nicht und „viel“ konnte man auch nicht verlangen. So tranken wir viel Tee an diesem Morgen.
Wenn alle fertig sind, raus zum Palaver“, hatte Onja gerufen.
Diesmal war Henk dran mit Moderieren.
So,“ begann er seine Situationszusammenfassung, „zurück können wir nicht mehr. Um wieder voll in unserer Zeit zu leben, müssen wir unbedingt die Kari finden. Gehen wir davon aus, dass sie mit ihren kurzen Beinen nicht Hunderte Kilometer gelaufen sein können, selbst, wenn sie die ganze Zeit unterwegs gewesen wären. Gehen wir weiter davon aus, dass wir nicht wissen, in welche Richtung sie gezogen sind. Das heißt, wir können nicht einfach eine Gruppe hinterher jagen.
Gehen wir drittens davon aus, dass wir noch nie gesehen haben, wie sie zusammen wohnen. Es wäre nur geraten, wenn wir annehmen, sie bauen sich Termitenhügel. Weiß jemand mehr?“
Das war eigentlich gut gemacht. Alle erwarteten, dass er weiter sprach.
Wenn das nicht der Fall ist, bleibt die Frage, wie wir jetzt vorgehen können. Wir müssen dazu noch eine vierte Annahme setzen: Dass sich die Kari finden lassen wollen. Wenn nicht, haben wir keine Chance.
Ich schlage Folgendes vor: 1. Wir replizieren einhundert kleine automatische Sender. 2. Wir versehen sie mit einer Endlosschleife Text etwa unser Standort und dass wir Hilfe brauche. 3. Wir schicken sternförmig acht Teams los, die im Abstand von fünf bis zehn Kilometern die Sender aussetzen, wenn sie nicht direkt auf die Kari stoßen.“
Komuna hatte ums Wort gebeten. „Im Großen und Ganzen ist der Vorschlag vernünftig. Die Endlosschleife geht sogar noch einfacher: Zum einen wissen wir unseren Standort selbst nicht genau zu beschreiben, zum anderen wissen ihn aber die Kari selbst. Schwieriger sind die Teams. Bei achten wären sie bis fünf Mitglieder stark, wenn keiner hier bliebe, was ich ablehne. Wir sollten nur los schicken, wer unbekannten Gefahren gewachsen ist. Große Technik können wir nicht mehr replizieren. Also schleppen. Wenn was passiert, müssen sich die Teams teilen können. Ich schlage vier Teams vor. Höchstens sechs.“
Wer dann noch alles was sagte, weiß ich nicht mehr. Die Diskussion wurde auch immer unangenehmer. Je deutlicher sich zeigte, dass sein Vorschlag nicht haarklein so angenommen wurde, wie er ihn gemacht hatte, um so gereizter wurde Henk, ja, um so schlechter war er als Moderator. Zum Schluss brüllte er nur noch „Macht doch, was ihr wollt, wenn ihr alles besser wisst.“
Er ist dann einfach gegangen, ohne die Wahl des nächsten Moderators abzuwarten. Seine Jungs folgten ihm. Ich ahnte schon, was er vor hatte. Aber so schlimm konnte es ja nicht sein. Hauptsache, er hinterließ eine Markierung, wo er los gezogen war, damit wir uns insgesamt gut verteilten. Zu viert verließen sie uns noch am selben Abend. Beim Restpalaver zog sich dann immer mehr eine Schlinge um meinen Hals zusammen: Jemand musste im Lager bleiben, am Sprechfunk überwachen, was zwischen den Teams eventuell zu koordinieren war, auf die Jüngsten aufpassen ... Und genau dafür schien ich am geeignetsten. Nicht genug damit. Onja und Jenny übernahmen jeweils ein eigenes Team. Mir blieb gerade einmal Sarah und ­ freiwillig! - auch Xu-Li. Salio schloss sich bei dem bevorstehenden Abenteuer seiner richtigen Schwester Onja an.
Es war eine bescheuerte Nacht. Immer wieder wurde ich von Albträumen gequält. Immer wieder wachte ich auf und konnte mich an nichts erinnern. Immer wieder schlief ich ein und alles fing von Neuem an. Dabei war ich doch für die langweiligste Aufgabe überhaupt ausgewählt worden.

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