An der folgenden Stelle wage ich ein Perspektiven-Experiment: Eine Ich-Erzählerin tritt auf - trotzdem wird aus der "Perspektive" einer anderen Person erzählt. Noch ist die Kugelbesitzerin interessanter ... und bisher hat Marie ja alles so erzählt wie ein über den Dingen stehender Erzähler. Nun wird der erste große Auftritt der Ich-Erzählerin vorbereitet ...
Slov ant Gali: Stochern im Nebel (34)
... „Mach kein Quatsch!“ Die blanke
Angst klang aus Sonjas Ruf. Sonja, die Zarge, schluckte. Mir war so
etwas zuzutrauen. Das wusste sie ja. Also korrigierte sie sich: „Ich
komme mit. Du hast hoffentlich nichts dagegen. Beim nächsten Mal
werten wir dann unsere Ergebnisse aus. Aber zum eigentlichen Thema
der Stunde. Tun wir erst einmal so, als gäbe es keine Ätzer. Geht
das in Ordnung, Marie?“
Sonja wollte mit der Ironie im letzten
Satz die Kontrolle über die Stunde zurückgewinnen. Dabei sah doch
jeder, sie hätte am liebsten die Tür von draußen zugemacht.
Natürlich war sie gegen die Behauptung, die letzten Tage der
Menschheit seien angebrochen. Sie hätte den Kommentatoren, die das
verbreiteten, sofort den Ton abdrehen, die Finger von den Tasten
reißen wollen. Es wurden aber immer mehr. Und wie sollte sie die
ungebremste Naturgewalt sonst erklären? Sonja versuchte, die Stunde
durchzuziehen. Aber da war nichts zu retten. Wir waren genauso wenig
bei der Sache wie sie. Zum Schluss schaffte sie nicht einmal ihre
Zusammenfassung.
Zum Pausenbeginn meldeten sich zehn
Schüler. Sonja wählte fünf aus. Mehr Platz war nicht in ihrem
E-Car. Bestimmt hatte sie längst bereut, auf meinen Vorschlag
eingegangen zu sein. Andererseits wollte sie verhindern, dass wir uns
in unnötige Gefahr begaben. Das konnte sie am besten, wenn sie
selbst dabei war.
Nach den Schulstunden stürmte sie zur
Nachbarschule, um ihre Zwillinge abzuholen. Dann rief sie
gewohnheitsmäßig ihre Mails auf. Jens Marder? … Ach, der von
Näswerder, der lebte also auch noch und sogar ziemlich in der Nähe!
… Aha, er hatte mit den Berliner Ereignissen zutun ... Rahman tot? Verdammt! …
Sonja hatte die Mail zu Ende gelesen.
Sie war nun noch wütender auf ihren Auftritt in der Stunde. Hätte
sie sich nicht zumindest diesmal den Schlenker auf die Medien
verkneifen sollen? In Berlin wütete die totale Vernichtung. Die
Hilferufe, Flüchtlinge aus den betroffenen Gebieten aufzunehmen,
waren keine der üblichen Panikmeldungen. Dann aber beruhigte sie
sich wieder. Obwohl Jens scheinbar unmittelbar an der
Katastrophenbekämpfung in Berlin beteiligt war, deutete er irgendein
albernes Geheimnis an. Seine Schwur-Kugel wirke auf Insekten. Na,
wenn er das für erwähnenswert hielt, dann konnte die Bedrohung
durch die Sikroben wohl nicht so schlimm sein.
Und wenn doch, dann stießen wir bei
unserem Ausflug bestimmt rechtzeitig auf Sperren, an denen man uns
aufhielte. Wir kämen also nie in die tatsächliche Gefahrenzone.
Sollte Frau Holzmann bei den Zwilligen nach dem Rechten sehen, am
besten mit dem Hinweis, es könnte spät werden, sie möchten allein
schlafen gehen.
Zehn vor drei klingelte es. ...
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