Mittwoch, 24. April 2013

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1721

Prosaisch weiter:


Anna Roth: Wurzeln (3)


... Eine Verlegung nach Wismar stünde bevor. Oder schrieb er "Frontbegradigung"? Auf jeden Fall war doch eigentlich verboten, überhaupt Orte in Briefen zu erwähnen.
Unser Ziel war Bayern oder Hessen. Jedenfalls weit genug weg von den Russen. Warum nur musste Jandl ausgerechnet jetzt Fieber und Durchfall bekommen? Wie sollte ich im Treck Wäsche waschen? Bald stank es fürchterlich auf unsrem Karren. Woher Wasser bekommen? Nachrichten? Wie lange der Treck unterwegs sein würde. Bis wohin. Alles war ungewiss. In diesem Zustand kamen wir an einem Rangierbahnhof vorbei. Das war meine Chance! Reichsbahner mussten sich doch helfen ...
Erst einmal fließendes Wasser. Zwar nur kalt, aber zum Spülen genug. Dann zwei Bahner: Ob sie eine Nachricht weiterleiten konnten ... nach Wismar? Wir seien auf der Flucht, wahrscheinlich nach Bayern, es gehe uns gut, zumindest im Moment noch ...?!
"Nach Wismar?! Dieser Zug fährt direkt dorthin. Es ist der letzte. Soldaten. Nachschub für die Front ..."
"Front?! In Wismar?! ... Egal. Könnten Sie die Nachricht ...?"
"Fahren Sie einfach mit! Hinten, auf dem Güterwaggon. Ist doch egal, wo Sie um Ihren Mann zittern."
"Ich muss aber zu den Andern. Sehen Sie?"
Ich habe den Männern die feuchten, angebräunten Spülwindeln hingehalten. Die haben gelacht.
"Nein. Der Zug fährt sofort. Mit Ihnen, ohne Sie. Es ist bestimmt der letzte in diese Richtung. Springen Sie schon. Wenn Ihr Mann dort wartet ..."
Die Lok pfiff. Ein Beamter hob seine Kelle. Langsam bekam der Zug Fahrt.
Bayern? Wismar? Ein Fehler konnte beides sein.Was ich weiter gedacht habe? Ich weiß es nicht. Vielleicht nichts. Wahrscheinlich nichts. Ich sprang einfach. Die feuchten Kackfetzen in der Hand. Ohne Familie. Ohne Geld. Ohne Papiere. Der Treck zog weiter. Nach Bayern. Mit meinem Familienkarren. Mit der Angst um mich. Mit einem Kind, einem stinkenden, um dessen Hintern ich mich hatte kümmern sollen.
Ja. Ohne diesen Sprung wäret ihr in Bayern zur Welt gekommen. Oder auch gar nicht.
... Warum verstehst du das nicht? Wir wären mit Tante Gerda zusammengeblieben. Wir hätten unsere Entschädigung bekommen, weil man uns doch vertrieben hatte ... Gut, wir hätten sie selbst bekommen. Nicht als Fresspakete von der Tante. So aber ...

... Weiß ich, ob der Zug in Wismar angekommen ist? Mich haben sie jedenfalls vorher in Schwerin rausgeworfen: Zum Arzt! Ich würde blind. Was weiß ich, wie lange ich die Bindehautentzündung schon mit mir rumgeschleppt hatte. Erst als ich die Verantwortung für die Anderen schlug sie zu. Meine Augen waren total verklebt. ...
"Wie geht es ihnen? Eine Frau in Schwesterntracht beugte sich über mich. "Hier ist das Bahnhofshospital. Sie haben seit vorgestern Margen geschlafen."
Sie reinigte mir mit einem Wattebausch die Augen.
Ich konnte wieder sehen. Das sei ein Wunder, behauptete die Schwester. So, wie sie mich abgegeben hatten ...
Dann kam der Schock. ...

xxxxxxx

Dazu kommen die morgigen "Gedichte des Tages":

Sollten meine Burnout- und Sorgen-Gedichte zu nichts getaugt haben, so haben sie zumindest Anregungen geliefert. So meldete sich Brunhild Hauschild mit einer bei ihr auf Lager liegenden Schilderung einer "Depression" zu Wort, Hanna Fleiss dagegen zuckten die Augenwinkel. So ein wenig unernst bot sie "Leid und Mitleid" an. Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass hier ein altes deutsches Sprichwort illustriert wird: Wer den Schaden hat, braucht sich um den Spott nicht zu sorgen (... Die Revolution müsste er schon selber machen ...).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Follower