Dienstag, 10. September 2013

Lyrik-Prosa-Wortkultur 1850

.Wir beginnen wie üblich mit Prosa, diesmal jedoch mit einen in mehrfachen Sinne "Appetithappen" - zum einen insoweit es eine Leseprobe ist aus einem Roman, der besondere Lesebedürfnisse befriedigt, zum anderen aber ... muss man das gelesen haben, dann versteht man:

Thomas Reich: "Der Stadtkannibale" (1)

Andreas saß in der elterlichen Küche, eine kühle Fanta vor sich. Kondenswasser perlte an der Glasoberfläche, Eiswürfel klirrten friedvoll. Das Quecksilber im Fenster zeigte bereits zwanzig Grad an; es versprach ein heißer Tag zu werden. Im Radio dudelte der Hitbox-Moderator die neusten Clubsounds zur Beachparty, die am Marktplatz stattfinden würde. Wenn sein Vater es ihm erlauben würde, so wollte Andreas mit ein paar Freunden hingehen. Ein heikles Unterfangen, aber er würde den alten Herrn schon einwickeln. Denn richtig abgehen würde die Party erst zu später Stunde. Aber waren nicht Sommerferien? Also Scheiß drauf, sagte sein Herz. In der Münztasche seiner ausgefransten Jeans hatte er ein paar Kaugummis eingesteckt. Das Herz eines Jungen schlägt unweigerlich für das Abenteuer. Er würde die Sandalen aus dem Wirrwarr im Boden seines Kleiderschranks puhlen, und an den Bach gehen. Die Flusskrebse studieren, und sich über die filigranen Muster wundern, die das Wasser in die Steine gespült hatte. Sein Vater kam im Unterhemd in die Küche, eine Zigarette baumelte ihm lässig im Mundwinkel.
„Heute mache ich einen Mann aus dir.“
„Hm?“
„Wirst schon noch sehen. Eine Überraschung.“
Mit dem großen Transporter ging es hinaus aufs Land. Duftige Salbeilandschaften zogen an ihnen vorbei. Bienen summten, irgendwo bellte ein Hund. Zwischen langen Alleen sprenkelte die Sonne ihre Gesichter. In der Luft lag die freudige Erwartung eines perfekten Sommertages. Ein Junge und sein Vater, die einen Ausflug machten. Der Wind des offenen Seitenfensters zerzauste Andreas Haare.
„Ist es noch weit?“
„Gleich da vorne. Siehst du den Schopf?“
„Ein paar Schindeln sind lose, Papa. Waren wir schon einmal hier?“
„Als du noch viel kleiner warst, ja. Ich dachte nicht, dass du dich erinnern würdest.“
„Da waren andere Kinder, mit denen habe ich im Maisfeld verstecken gespielt.“
„Dein Vater kommt jede Woche hierher, um Nachschub zu holen.“
„Du meinst Fleisch?“
„Bevor wir Fleisch essen können, ist es ein lebendiges Tier. Ach, die Jugend von heute! Wir kannten keine Supermärkte, als wir klein waren! Uns konnte niemand vormachen, eine Kuh wäre lila.“
Andreas sah betreten zu Boden.
„Entschuldigung.“
„Brauchst dich nicht für entschuldigen, Kleiner. So ist die moderne Welt eben. Aber solange du dich an deinen Vater hältst, lernst du ein paar der guten alten Werte. Und nun hopp, wir werden erwartet.“
Hinter ihnen fiel die Wagentür scheppernd ins Schloss. Andreas fiel auf, wie alt und runtergewirtschaftet ihr Sprinter war. Die Verkleidung der Türen hing an einigen wenigen, nicht abgebrochenen Kunststoffzapfen. In den Flanken sammelte sich Rost, wie eine krebsartige Geschwulst. Ein treuer Muli, der in die Jahre gekommen war. Schwäbische Sparsamkeit gehörte zu den Tugenden, die sein Vater ihn lehrte.
Aus der Scheune kam ein Stallhund angekläfft, mit Weizenspreu im Fell. Aufgeregt sprang er an den Beinen hoch, doch Andreas war nicht zum Spielen zumute.
„Erwin, pack deine dumme Töle weg!“
Aus dem Wohnhaus kam ein wettergegerbter Bauer, einen dunkelbraunen Filzhut keck in den Nacken geschoben. Zwischen seinen schmalen Lippen glimmte eine selbstgedrehte Zigarette. Er nickte dem Jungen freundlich zu, und schüttelte dem Vater die Hand. Andreas bemerkte gelbe Nikotinschwielen.
„Schön, dich zu sehen. Groß geworden, dein Sohn. Letztes Mal ging er mir gerade mal bis hier.“
Mit der flachen Hand deutete er Andreas alte Größe an. Dann lachte er, und fuhr ihm durchs Haar.
„Sind die Sauen schon soweit?“
„So bereit, wie eine Sau halt sein kann. Die haben schon ihr Testament gemacht.“

Der Alte kicherte unbändig über seinen kleinen Scherz. Wie Kies, der unter den Halbschuhen knirscht. Andreas hingegen zog die Nase kraus, als sie sich den Schweinekoben näherten. ...

***
Fehlen noch die Gedichte des Tages:


Beginnen wir mit einer "Nachbereitung" zum gestrigen 11.September, dem Tag 40 Jahre nach dem chilenischen Tag der langen Messer:

Slov ant Gali: Senryū Nr. 105


Außerdem hat uns Sebastian Deya mit einem Gedicht beschenkt:

Sebastian Deya: bleibt als gemeinsamkeit nur einsamkeit


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