Thomas Reich: "Der Stadtkannibale" (1)
Andreas saß
in der elterlichen Küche, eine kühle Fanta vor sich. Kondenswasser
perlte an der Glasoberfläche, Eiswürfel klirrten friedvoll. Das
Quecksilber im Fenster zeigte bereits zwanzig Grad an; es versprach
ein heißer Tag zu werden. Im Radio dudelte der Hitbox-Moderator die
neusten Clubsounds zur Beachparty, die am Marktplatz stattfinden
würde. Wenn sein Vater es ihm erlauben würde, so wollte Andreas mit
ein paar Freunden hingehen. Ein heikles Unterfangen, aber er würde
den alten Herrn schon einwickeln. Denn richtig abgehen würde die
Party erst zu später Stunde. Aber waren nicht Sommerferien? Also
Scheiß drauf, sagte sein Herz. In der Münztasche seiner
ausgefransten Jeans hatte er ein paar Kaugummis eingesteckt. Das Herz
eines Jungen schlägt unweigerlich für das Abenteuer. Er würde die
Sandalen aus dem Wirrwarr im Boden seines Kleiderschranks puhlen, und
an den Bach gehen. Die Flusskrebse studieren, und sich über die
filigranen Muster wundern, die das Wasser in die Steine gespült
hatte. Sein Vater kam im Unterhemd in die Küche, eine Zigarette
baumelte ihm lässig im Mundwinkel.
„Heute mache ich einen Mann aus dir.“
„Hm?“
„Wirst schon noch sehen. Eine
Überraschung.“
Mit dem großen Transporter ging es
hinaus aufs Land. Duftige Salbeilandschaften zogen an ihnen vorbei.
Bienen summten, irgendwo bellte ein Hund. Zwischen langen Alleen
sprenkelte die Sonne ihre Gesichter. In der Luft lag die freudige
Erwartung eines perfekten Sommertages. Ein Junge und sein Vater, die
einen Ausflug machten. Der Wind des offenen Seitenfensters zerzauste
Andreas Haare.
„Ist es noch weit?“
„Gleich da vorne. Siehst du den
Schopf?“
„Ein paar Schindeln sind lose, Papa.
Waren wir schon einmal hier?“
„Als du noch viel kleiner warst, ja.
Ich dachte nicht, dass du dich erinnern würdest.“
„Da waren andere Kinder, mit denen
habe ich im Maisfeld verstecken gespielt.“
„Dein Vater kommt jede Woche hierher,
um Nachschub zu holen.“
„Du meinst Fleisch?“
„Bevor wir Fleisch essen können, ist
es ein lebendiges Tier. Ach, die Jugend von heute! Wir kannten keine
Supermärkte, als wir klein waren! Uns konnte niemand vormachen, eine
Kuh wäre lila.“
Andreas sah betreten zu Boden.
„Entschuldigung.“
„Brauchst dich nicht für
entschuldigen, Kleiner. So ist die moderne Welt eben. Aber solange du
dich an deinen Vater hältst, lernst du ein paar der guten alten
Werte. Und nun hopp, wir werden erwartet.“
Hinter ihnen fiel die Wagentür
scheppernd ins Schloss. Andreas fiel auf, wie alt und
runtergewirtschaftet ihr Sprinter war. Die Verkleidung der Türen
hing an einigen wenigen, nicht abgebrochenen Kunststoffzapfen. In den
Flanken sammelte sich Rost, wie eine krebsartige Geschwulst. Ein
treuer Muli, der in die Jahre gekommen war. Schwäbische Sparsamkeit
gehörte zu den Tugenden, die sein Vater ihn lehrte.
Aus der Scheune kam ein Stallhund
angekläfft, mit Weizenspreu im Fell. Aufgeregt sprang er an den
Beinen hoch, doch Andreas war nicht zum Spielen zumute.
„Erwin, pack deine dumme Töle weg!“
Aus dem Wohnhaus kam ein
wettergegerbter Bauer, einen dunkelbraunen Filzhut keck in den Nacken
geschoben. Zwischen seinen schmalen Lippen glimmte eine
selbstgedrehte Zigarette. Er nickte dem Jungen freundlich zu, und
schüttelte dem Vater die Hand. Andreas bemerkte gelbe
Nikotinschwielen.
„Schön, dich zu sehen. Groß
geworden, dein Sohn. Letztes Mal ging er mir gerade mal bis hier.“
Mit der flachen Hand deutete er Andreas
alte Größe an. Dann lachte er, und fuhr ihm durchs Haar.
„Sind die Sauen schon soweit?“
„So bereit, wie eine Sau halt sein
kann. Die haben schon ihr Testament gemacht.“
Der Alte kicherte unbändig über
seinen kleinen Scherz. Wie Kies, der unter den Halbschuhen knirscht.
Andreas hingegen zog die Nase kraus, als sie sich den Schweinekoben
näherten. ...
Fehlen noch die Gedichte des Tages:
Beginnen wir mit einer "Nachbereitung" zum gestrigen 11.September, dem Tag 40 Jahre nach dem chilenischen Tag der langen Messer:
Slov ant Gali: Senryū Nr. 105
Außerdem hat uns Sebastian Deya mit einem Gedicht beschenkt:
Sebastian Deya: bleibt als gemeinsamkeit nur einsamkeit
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