Samstag, 1. Januar 2011

Sicherung gott

Ich wurde Gott

Klappentext

Fred lachte laut. Es klang nicht echt. Der Schreck war zu frisch, um ihn zu überspielen. Doch die anderen 16jährigen merkten es nicht. Schließlich hatte er das „Abenteuer Zeitreise“ gewagt und war in das Zelt gegangen. Nun lauschten sie, wie er wild gestikulierend erzählte: „... Stellt euch vor, keine 2000 Jahre und die Leute haben solchen Humbug geglaubt! Na, war auch ne echt starke Show. Gruselig. Die Beleuchtung, die Kugel, die Maske, der hypnotische Blick. Und die Stimme erst! Ein Tonfall, da läuft´s einem kalt den Rücken runter: Sie werden einmal mehr Mädchen haben, als sie sich jetzt vorstellen können. Ein ganzer Kontinent wird Ihnen zu Füßen liegen. Sie werden ein Gott sein. Mächtig und rücksichtslos. Sie werden sich vor sich selbst fürchten, sich fragen, was bin ich nur für ein Mensch?! Alles, was Sie jetzt noch als normal empfinden, wird ihnen fern sein wie fernste Vergangenheit. Aber noch können Sie diesem Schicksal entgehen. Reisen Sie nicht! Ich flehe Sie an, reisen Sie nicht!“
Am Abend nach dem Jahrmarktsspaß gingen die Jugendlichen tanzen. Bald hatte Fred alles vergessen. ...

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… „ … Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
..“

Fantastisch, diese Gebete! Sie haben das einfach vor sich hin gemurmelt. Die Formel beschwor einen allmächtigen Gott, er möge ihnen ihre Schuld, welche auch immer, vergeben, und er vergab ihnen. Musste er ja, denn es gab ihn doch nur in ihrer Einbildung. Dafür vergaben sie dann auch allen Anderen deren Schuld. Hauptsache Vergeben.
Die Menschen damals waren echt gut dran. Von Bösem erlöst werden - musste das nicht ein herrliches Gefühl gewesen sein? So viel Böses machen zu dürfen und eine Einbildung vertreibt das schlechte Gewissen?
Immerhin hatten sich die Leute in diesen Jahrtausenden etwas bewahrt: Die Angst vor der Versuchung. Sie fürchteten, Böses zu tun, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, hofften, gar nicht erst in eine Situation zu geraten, in der sie Böses täten. Ich habe solche Angst nicht. Aber was sollte ich auch je wirklich Böses anrichten? Wir tun doch alle nur unser Bestes ...

Aus einer Textinterpretation, geschrieben von Fred Majorus im Alter von 12 Jahren, festgehalten im Erinnerungsbuch der 3. Europäischen Oberschule Merkurville für ihren verschollenen ehemaligen Schüler

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Immer wieder verharrte der Mann. Er sog die trockene Herbstluft in sich ein, lauschte auf die Geräusche der Umgebung, schien innerlich zu nicken. In der Nähe knackte es. Aber das war sicher nur ein aufgescheuchter Kasal. Harmlos also. Zu sehen war jedenfalls nichts. Der Mann beugte sich vor, befühlte sein rechtes Bein, atmete gepresst, drückte den Rücken wieder durch und schüttelte den Kopf, als ließe sich so ein lästiger Gedanke vertreiben. Dann setzte er seine Wanderung fort. Längst lagen die befestigten Wege, inzwischen auch die unbefestigten Pfade hinter ihm. Dort, wo er jetzt entlang schlich, gab es nicht einmal mehr Spuren von Tieren. Der Mann drängte sich absichtlich durch eine Ansammlung von Gewächsen, deren Stachelarme alle normalen Lebewesen auf Distanz hielten. Diesen Fluchtweg würde kaum jemand für möglich halten. Mitunter erinnerten die Bewegungen des Mannes an eine geschmeidige Katze, meist aber an einen Greis oder ein angeschossenes Tier in den letzten Zügen. Endlich war er davon überzeugt, alle eventuellen Verfolger abgehängt zu haben.
Und es schien auch niemand da zu sein, der den Mann verfolgt hätte. Oder doch? In etwa 30 bis 50 Meter Entfernung bewegte sich eine Frauengestalt. Mit den Händen umklammerte sie einen hölzernen Stock. Manchmal stützte sie sich darauf, manchmal hielt sie ihn, als wollte sie den Mann angreifen. So, wie er hoffte, alle Verfolger abgeschüttelt zu haben, tat sie alles, um nicht bemerkt zu werden. Ihr kam dabei zugute, dass sie fast einen halben Meter kleiner gewachsen war als er.
Eigentlich hätte ein Stock zum Gehen eher zu dem Mann gepasst. Aber sein tatsächliches Alter war schwer zu schätzen. Sein Kopfhaar war voll, wenn auch grau, und reichte ihm über die Schultern. Es wirkte gepflegt, genau wie der Bart. Die Haare umrahmten ein kantiges Gesicht, ein ausdrucksstarkes, vom Wetter gebräuntes, mit einem leichten Touch ins Olive. Am auffälligsten an dem Flüchtling waren aber die Augen. Gelegentlich schimmerte gütige Weisheit durch ihren blauen Glanz, dann wieder flackerten sie irre, um im nächsten Augenblick wieder hart wie Stahl aufzublitzen. Der Mann strotzte vor Entschlossenheit, dass es einem ahnungslosen Gegenüber unwillkürlich Angst eingeflößt hätte. Dabei war der Mann unbewaffnet und er trug grobes Lederzeug wie ein einfacher Bauer.
Die Frau schien vorauszuahnen, wann er lauschend stehen bleiben würde. Sekundenbruchteile früher verharrte sie. Ihr Gesicht musste man nicht wirklich weiblich oder schön finden. Am ehesten erinnerte es an eine Indianerin oder Mongolin. Etwas ledrig, etwas zu rund. Ihre Augen waren groß und schauten mit der Güte der ewigen Mutter Erde. Bald würde sich auf dem Gesicht eine eigentümlich schöne Faltenlandschaft vollenden. So weit war es aber noch nicht. Dem ahnungslosen Beobachter der Szene wäre die Verbissenheit, mit der sie den Mann im Blick behielt, unverständlich geblieben. Sie passte wenig zur Sanftmut des ersten Eindrucks. Hätte dieser Betrachter genauer hingesehen, wäre die Verwirrung durch die Kleidung der Frau komplett gewesen. Auf den ersten Blick passten die Mokkasins, die unverkennbar aus dem Leder einer gegerbten Tierhaut gefertigt waren, und das farngrüne, weich über die Knie fallende Kleid ja wunderbar zusammen. Aber auf den zweiten gab das Material des Kleides aber ein unlösbares Rätsel auf. Der Stoff war eindeutig kein Leder. Für Baumwolle, Leinen oder ein anderes natürliches Material, das man an der Frau vermutet hätte, und das vergleichbar anschmiegsam war, bot es einfach zu sicheren Schutz gegen die in etwa einem Meter Höhe angreifenden Stachelarme. Jeder normale Stoff wäre längst zerrissen.
Endlich kam der Mann etwas zur Ruhe. Offenbar hatte er sein Ziel erreicht. Er war auf einer Lichtung angekommen uns so weit oben würde ihn wohl niemand suchen. Dachte er. Also warf er sich ins Gras. Nachdenken! Endlich Ordnung in die Erinnerungen bringen. Der Mann war erschöpft. Aber nicht nur. Als er seine Hose ausgezogen hatte, kam eine eiternde, etwa acht Zentimeter lange Wunde zum Vorschein. Der Mann hatte sie angestarrt wie eine absolut unerklärbare Erscheinung. Mit den Fingerspitzen der linken Hand berührte er sie, als wollte er sich noch einmal von ihrer Existenz überzeugen. Vor Schmerz verdrehte er die Augen. Für einen Moment nahm er die Umgebung nicht wahr. Diesen Moment nutzte die Frau, um an ihn heranzutreten. Leicht gebeugt stand sie vor ihm. Ihr Blick spiegelte totale Verwirrung wider. Sie sah einen Menschen vor sich, der ihr so grenzenlos vertraut wie fremd in einem war, im Augenblick aber ungeheuer fremd.
Bitte lass mich sterben!“ Gequält blinzelte der Mann zu der Frau hoch.
Das sieht nicht gut aus. Wird aba wieda wardn, Frad! Ich ward dich pflagn, so gut as gaht.“
Suchend sah sich die Frau um. Dann zuckte sie mit den Achseln, streifte ihr Kleid ab, legte es sorgsam zusammen, hob den Kopf des Mannes, schob das weiche Päckchen darunter und betrachtete, sichtlich unzufrieden, das Ergebnis. Noch immer lag der Kopf des Mannes zu niedrig. Aber in der Nähe lag nichts, dass als Unterlage für den Körper geeignet schien.„Gaht´s?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, zerriss sie ihren Unterrock, spuckte auf einen des Stofffetzen und begann den Dreck aus der Wunde zu wischen.
Hast du das etwa von mir gelernt?“ fragte er, verkrampft lächelnd.
Sie antwortete nicht. Erst als sie fertig war und einen zweiten Fetzen relativ fachgerecht zum Verbinden benutzte, lachte sie: „... aba das!“
Ich habe dich nicht verdient. Euch alle nicht“, murmelte er.
Du hast Fieba. Das wird schon.“ Die Frau strich dem Mann, den sie Frad genannt hatte, über das überhaupt nicht fiebrige Gesicht.
Lass! Ich bin ein Verbrecher. Ich habe so ziemlich die schlimmsten Verbrechen begangen, die ein Mensch überhaupt begehen kann. Bitte! Lass mich meine Strafe empfangen! Keiner soll mich so in Erinnerung behalten. Auch du nicht. Gerade du nicht. Ich ...“ Der Mann machte eine Pause, überlegte angestrengt, schien nach längerem Schweigen zu einem Entschluss gekommen zu sein. „Vielleicht hast du Recht und es ist besser so. Du hast doch bestimmt viel Zeit?“ Und als sie, anstatt zu antworten, ihm nur durch die verwirbelten Haare strich, fuhr er fort: „Klar hast du Zeit. Lujann. Ich danke dir für jeden schönen gemeinsamen Augenblick. Ich dachte, es wäre besser, wenn du alles mit den Augen von früher in Erinnerung behältst. Denn was ich dir jetzt alles erzähle, wird auch dir weh tun, obwohl du das am allerwenigsten verdient hast. Aber es gehört wohl zu meiner Strafe, dass ich dir weh tun muss, wenn ich mich selbst bestrafen will ... Versprich mir bitte, dass du mich nicht unterbrichst. Ich glaube, dann verliere ich die Kraft für die ganze Geschichte. Merke sie dir gut und entscheide, was du mit ihr anfängst, wenn ich hier meine ewige Ruhe gefunden habe. Und nimm dein Kleid mit. Gib es weiter an deine liebste Tochter mit der Bitte, es an ihre liebste Tochter zu geben und so weiter. Es soll euch an mich erinnern ... selbst wenn du nachher fluchen magst, du wärst mir besser nie begegnet.“
Mit einer mütterlichen Geste einem Kind gegenüber, das gerade seine Angst zugegeben hat vor der nächtlichen Dunkelheit, strich sie ihm über den Kopf. „Du radist wirr.“ Aber offenbar war auch sie der Meinung, dass der Mann bald sterben würde, und sie ihm deshalb seinen letzten Willen nicht abschlagen durfte. „Klar, ich hör dir zu. Natürlich hör ich dir zu ...“
Einen Moment schwieg der Mann noch, dann begann er zu erzählen. Er erzählte mit einer festen Stimme, die wenig zu dem gebrochenen, entrückten Gesamteindruck des Mannes passte. Nur manchmal stockte er und die Handbewegung, die er dabei machte, erinnerte an das Drücken eines Aufnahmegeräts, mit der er die eigenen Tonaufzeichnungen unterbrach, um dann konzentriert fortzufahren.

Ich wurde als ganz normaler Mensch geboren. Weit weg von hier. Wenn du mich fragst, wie weit, dann kann ich nur ehrlich sagen, ich weiß es nicht. Das ist ein Teil meiner Geschichte. Auf jeden Fall weiter weg, als du denkst, weiter, als du dir vorstellen kannst. Aber es war eine Erde wie diese hier. Der einzige Unterschied waren die Wesen, die darauf lebten, und wie sie sich und ihre Welt verändert hatten. Dort lebten wirklich lauter solche Menschen wie ich und keine Saks wie ihr.
Wenn du hier durch das Land wanderst, kannst du noch immer Deinesgleichen begegnen, bei denen sagt man sich, wie unnötig mühselig leben und arbeiten die! So muss das doch nicht sein. Du hast Unrecht. Umgekehrt wäre es richtig. Wenn irgendwo etwas nicht normal ist, dann überall dort wo ich, wo wir … Verflucht, ist das kompliziert! Also, weißt du, jede umgesetzte kleine Idee, wie man etwas herstellen kann, verbessert das Leben. Aber eben zuerst nur das Leben Einzelner. Erst später sind so viele Ideen da, dass dieses bessere Leben allen Menschen zugute kommen kann. Dieser Punkt war auf meiner Erde schon viele, viele Generationen vor meiner Geburt erreicht. Weil es da längst schon nicht mehr darum ging, dass sich Einzelne auf Kosten Anderer bereicherten, wurden immer neue Geräte entwickelt, damit jeder besser leben konnte. Die meisten Geräte, die du kennst, stammen aus dieser, meine Welt und dein Wissen stammt letztlich auch daher. Ich habe es mitgebracht wie die fremden Pflanzen, die hier neuen, fruchtbaren Boden fanden. Und anfangs hielt ich auch meine Vorstellungen von der Art, wie man so miteinander umgeht, für so fruchtbar … Na, dazu später. Anderes ist nämlich wichtiger.
Zum Beispiel, dass zu einem guten Leben gehört, gesund zu sein, dass man Andere durch das, was man macht, erfreuen kann und sich sozusagen selbst wieder an deren Freude erfreut. Als wir Menschen es endlich geschafft hatten, unser eigenes kleines Glück nicht auf Kosten der Nachbarn aufzubauen, trat gerade die Gesundheit immer mehr in den Mittelpunkt unserer Forschungen. Was wurden da alles für Anstrengungen unternommen, um das Leben zu verlängern – aber eben nicht das Leben schlechthin, sondern das Leben in seinen besten Jahren, wie unsere Vorfahren sagten, also in seiner lebenswertesten Form.
Und dann machten wir eine unsere Welt total verändernde Erfindung. Du weißt ja, dass wir alle aus Zellen bestehen. Und jede Zelle arbeitet ihr spezielles Programm ab, lebt sozusagen ein eigenes Leben im großen Organismus. Das Problem ist nur, … wie sag ich´s ... Stell dir vor, du verletzt dich. Dann entstehen an dieser Stelle allmählich neue Zellen. Das ist ein normaler Prozess. Jede Zelle stirbt ab, auch jede intakte, und wird durch eine Art Kopie ersetzt. Das sind normale biologische Heilungs- und Erneuerungsmechanismen. Nur schleichen sich irgendwann mit dem immer weiteren Kopieren der Kopien und durch verschiedene Umwelteinflüsse immer mehr Fehler ein. Dann geht es nicht mehr. Der ganze Körper funktioniert nur noch bedingt, man braucht immer mehr Pflege Anderer, bis man eben ganz stirbt.
So war das seit Ewigkeiten, bis ... ja, bis wir die Nanniten entwickelten. Nanniten oder Nannys, wie wir sie liebevoll nannten, sind ganz winzige biochemische Programme, Nanoroboter, die genetisch ins Körpersystem, eingeschleust werden und das gesamte Zellreparatursystem auf immer gleich bleibendem Niveau halten. Verstehst du: Exakt die Programme, die zum Zeitpunkt des Nanniteneinbaus stofflich ablaufen, werden immer wieder neu hergestellt, für die einzelnen Zellen und für den ganzen Körper als System. Jede Veränderung machten diese Nanniten relativ schnell rückgängig. Also nicht nur ungewollte. Es dauerte lange, bis das erkannt wurde. Das hatte nämlich zur Folge, dass die Manipulationen mittels der eingeschleusten Nanniten nicht im Kindesalter, sondern frühestens erfolgen konnten, wenn der Körper ausgewachsen war. Sonst blieb man nämlich ewig Kind. Und Veränderungen anderer Art durfte der Körper auch nicht mehr durchmachen müssen, egal ob erwünscht oder nicht. Den Zyklus einer Frau zum Beispiel, Schwangerschaften sowieso nicht. Allerdings konnte das Gehirn immer neue soziale Lerninhalte und Wissen aufnehmen, da wurden ja nur Verknüpfungen zwischen vorhandenen Zellen hergestellt; die Menschen wurden also immer weiser. Ihre Körper dagegen blieben unverändert jugendlich.
Ewig jugendlich sozusagen.
Wir hatten wie gesagt die Zeiten jeden egoistischen Besitzdenkens lange hinter uns. Es gab also keine Kriege mehr. Im Prinzip waren auch die verbliebenen Geißeln Krankheit und Tod besiegt. Ahnst du, was das bedeutete? Stell dir einfach vor, es lebten vorher schon mehr als acht Milliarden Menschen auf unserer Erde. Die starben aber alle - früher oder später. Neue Geburten waren schon allein dafür nötig, die Sterbenden zu ersetzen. Da ja jeder starb, musste zum Überleben der Menschen insgesamt letztlich die Zahl der Geburten mit der der Sterbefälle übereinstimmen. Du verstehst sicher, dass das über Jahrtausende das Denken der Menschen, ihre Riten, ihre Normen, Vorstellungen, ihre traditionelle Lebensplanung bestimmt hatte. Plötzlich aber war das nicht mehr wahr. Plötzlich sollten alle umdenken. Neues Leben bedeutete nicht mehr, die eigenen Erfahrungen weiterzugeben, so gut es ging, sondern wurde zum gefährlichen Luxus, weil jede Geburt die Zahl der auf der Erde lebenden Menschen unmittelbar erhöhte. Und unsere Moral schloss Verbote aus. So etwas wie in der Urzeit der Menschheit, als ein Staat aus Angst vor Übervölkerung die Ein-Kind-Ehe zur Zwangsnorm erklärte und Abweichungen bestrafte, wäre undenkbar gewesen.
Als es losging mit den Nannys gab es ja noch eine bremsende Erscheinung: Diese seltsamen Programme verhinderten Schwangerschaften im Körper der Frauen, waren also eine dauerhaft sichere Verhütung. Aber du weißt ja selbst, wie wunderschön es sein kann, das selbst Gelernte an andere weiterzugeben – noch dazu, wenn du es von den eigenen Eltern her so kennst und du das, was du an Fehlern bei denen beobachtet hast, endlich besser machen möchtest. So entstanden zwei neue Trends: Zum einen verewigten sich die Frauen meist erst, nachdem sie ihre gewünschten Kinder bekommen hatten, zum anderen wurden immer mehr Kinder außerhalb des eigenen Körpers gezeugt. Manche in Brutkästen, manche im Bauch von Leihmüttern. Wundere dich nicht! Die Leihmutterschaften wurden sogar so etwas Ähnliches wie Mode, da sich ja auch die Leihmutter nachher an ihrem Kind erfreuen konnte. Meist lebten diese Kinder in Gruppenfamilien wie hier.
Wie gesagt, eine Staatsgewalt, die die Vermehrung hätte verbieten und ein solches Verbot durchsetzen wollen und können, gab es nicht mehr.
Als ich zum Erwachsenen herangewachsen war, und mir die Möglichkeit auf ein solches ewiges Leben einpflanzen ließ, existierte die Nanniten-Technologie etwa 200 Jahre. Das heißt, wie lang diese „Ewigkeit“ wirklich dauern würde, hätte damals niemand sicher sagen können. Ob diese Zellregulatoren in - sagen wir - 800 Jahre alten Körpern noch funktionieren, ob sie also wirklich relativ ewiges Leben bewirken oder nur das Leben extrem verlängern, weiß man eben erst, wenn wenigstens einmal 800 Jahre um sind – und man lebte noch. Auch der Umfang der Überbevölkerung war noch nicht vorhersehbar, aber die Zahl der nebeneinander lebenden Generationen war schon gewaltig groß geworden. Und auch wenn es mit jeder späteren Generation etwas weniger neue Geburten gab, ein Ende war noch nicht abzusehen. Also rückten Menschen wie ich in den Mittelpunkt des Interesses: Raumfahrer. Die erschienen zumindest als eine der Möglichkeiten, diese Bevölkerungskatastrophe zu mildern, Wege zu neuen Traditionen zu eröffnen, solange die alten noch wirkten.
Der Mensch als Beherrscher der Galaxis. Die ersten verrückten Ideen von der Allmacht unserer Art im Kosmos waren ja schon vor Jahrtausenden aufgetaucht, also kaum, dass es technisch erstmals möglich geworden war, überhaupt die Erdanziehung zu überwinden. Dann verlor die Kosmosforschung aber bald für lange Zeit an Bedeutung. Eigentlich ist der Himmel ja auch langweilig. Zwischen den vielen Sternen, in deren Nähe meistens absolut kein Leben möglich ist, menschenähnliches schon gar nicht, bewegt sich viele, viele Jahre lang das Licht, ohne je auf irgendetwas zu stoßen. Nichts, fast absolut nichts. Was sollten Menschen dort? So extrem lange brauchte die Menschheit nicht, um herauszufinden, dass in relativer Nähe unserer Erde keine vergleichbare Lebenswelt oder ein neuer Siedlungsraum vorhanden war. Und relativ nahe nannten wir den Raum, den das Licht während eines vollen Menschenlebens durchquert. Und selbst wenn dort andere uns ähnliche Wesen existiert hätten oder ein bewohnbarer Planet … wie groß hätte ein Raumschiff denn sein sollen für eine Reise dorthin? Nach kurzer Zeit musste zum Beispiel einfach tödlich zermürbende Langeweile aufkommen. Es wäre nichts Anderes zu sehen gewesen als das, was man Tag für Tag, Stunde für Stunde zuvor genauso gesehen hatte. Vielleicht hätte man kleine Familien gründen können, innerhalb derer dann die nächsten Generationen sich mit ihren Eltern hätten vermischen müssen. Eine nicht gerade verlockende Aussicht.
Man fantasierte einen Flug schneller als das Licht herbei. Vielleicht innerhalb der nächsten dreihundert Jahre oder so. In Wirklichkeit hatte man es in diesem Zeitraum nicht einmal geschafft, allen Menschen der Erde ein würdevolles Leben und Sterben zu sichern. Und die Zeit und die Materialien, die man in den Raumflug gesteckt hätte, dafür sinnvoller eingesetzt.
Das Einzige, was man schaffte, waren Technologien für einen Dauerschlaf auszureifen. Wir hätten alle Lebensfunktionen in Kältebädern anhalten und danach wieder zum Leben erweckt werden können. Aber, gib zu, so toll ist die Vorstellung auch nicht, sich einfrieren zu lassen, Hunderte an Jahren irgendwohin geschossen zu werden, nur zufällig auf anderes Leben zu stoßen und im Idealfall, also wenn du wirklich auf demselben Weg zurückkommen solltest, auf einer Erde aufzutauchen, auf der du nach so vielen Generationen keinen Menschen oder Baum, wahrscheinlich nicht einmal irgendein Gebäude wiedererkennst. Vorausgesetzt, ein solches Unternehmen wäre erfolgreich gewesen.
Aber nun, mit den Nanniten ... Wenigstens theoretisch war plötzlich vorstellbar, nach einer zig tausend Jahre langen Reise die eigenen Schulkameraden wiederzutreffen! Und jeder, der für längere Zeit die Erde verließ, war sich der Dankbarkeit der Zurückbleibenden sicher. Er war ein Held, schuf er doch Platz für nachrückendes neues Leben, den vorher die Sterbenden geschaffen hatten, und vielleicht entdeckte er sogar Planeten, zu denen sich zu reisen lohnte, zu denen also Menschen in Massen auswandern konnten.
Die Langeweile allerdings blieb. Es waren also alles besondere Menschen in einer Welt von gleichen, die sich solch ein Unternehmen zur persönlichen Aufgabe machten, Pioniere, Abenteurer … und Sonderlinge wie ich ....
Wer weiß, wie weit die Erdmenschen jetzt sind, aber zu der Zeit, als ich den Entschluss traf, eine solche Expedition mitzumachen, steckte alles noch absolut in den Kinderschuhen. Zum Beispiel war noch unerforscht, wie die Kälte auf die Nanniten wirkte. Sprich: Man konnte zwar wagen, eine ganze Gemeinschaft auf Reisen zu schicken. Aber wenn die Leute aufgetaut worden wären, wären sie vielleicht wieder nannitenfrei … mit der früheren kurzen Lebenserwartung. So als eine Möglichkeit.
Nach dem Schicksal hatte ich kein Verlangen. So verrückt war ich auch wieder nicht. Ich gehörte zwar zu den Wenigen, die als kleine Testcrew fliegen wollten. Aber als Mitglied, dessen Nanniten auf jeden Fall intakt blieben. Dazu musste ich eben wach bleiben, egal, wie langweilig das würde, und von den Eingefrosteten durfte ich nur im äußersten Notfall jemanden wecken. Gegen die Langeweile hielt ich weder einen menschlichen Partnerkörper zum Erregen noch Menschen zum miteinander Unterhalten für erforderlich. Gefährlich war das nicht. Sollte mir etwas zustoßen, hätte das System die Anderen automatisch geweckt. Sollten wir auf einen Planeten stoßen, würden wir ihn sowieso gemeinsam erforschen. Die medizinische Überwachung bliebe auf jeden Fall aktiv.
Ich fühlte mich als Held der Menschheit und der Aufgabe gewachsen. Den eigentlich nötigen Tests hatte ich mich verweigern dürfen. Ich war ja so eine Art Selbstmörder im Dienste der Menschheit und bekam dafür die Freiheit, zu jedem Augenblick die selbst gewählte Einsamkeit abzubrechen. Alle, die mit mir flogen, hatten ihre Zustimmung gegeben.
Mein Raumschiff war nicht das einzige. Jeder, der sich freiwillig der friedlichen Eroberung neuen Lebensraums verschrieb, durfte dies nach Prüfung der technischen Möglichkeiten auch tun.
Vielleicht bereitete ich schon mit dieser Entscheidung meinen Weg zum Verbrecher vor – wer weiß? Es waren ja auf der Erde keine mehr bekannt. Vielleicht entfernte ich mich erst mit meinem Einzelgängerleben unterwegs vom Dasein als Mensch. Ich weiß wirklich nicht, warum ich so wenig darauf erpicht war, eines der hübschen eingefrosteten Mädchen zu wecken. Erst in den letzten Tagen hier habe ich gründlicher darüber nachgedacht. Eigentlich ist mir nur eine Erklärung eingefallen: Ich hatte Angst, Angst vor einer Abfuhr oder Angst vor der Vorstellung, ausgerechnet die, die mir gefallen hätte, wäre mir überlegen gewesen.
Und dann … Es ist so eine Sache mit dem In-einer-Gemeinschaft-Leben: Haben sich erst einmal Normen herausgebildet, dann bedarf es immer besonderer Kraft, sie zu durchbrechen – egal, ob sie gut oder böse sind. Und irgendwie reizte mich schon, dass gerade die Raumfahrerteams eigene Regeln entwickeln konnten, weil sie das mussten.
So also lebte ich freiwillig, absichtlich, ganz bewusst zwei Jahre lang allein zwischen lauter eingefrosteten Menschen. Wenn ich nicht die Sicherheit gehabt hätte, jeden bei Bedarf zu wecken, wäre mir das wahrscheinlich nicht gelungen. So aber studierte ich ungestört eine ungeheure Menge an Wissen meiner Zeit.
Zeit, ja, das war ein tolles Gefühl. Ich besaß sie im Überfluss. Lebenszeit und überhaupt.
Es kann ja sein, dass ich auch Angst hatte. Sollte unser medizinisches Experiment scheitern, hätte mich das ja indirekt auch mich betroffen: Wenn ich jemanden aus der Kälte holte, konnte der zu altern beginnen. Und ich bliebe jung daneben. Nein. Keine angenehme Vorstellung. Diese Risiko wollte ich erst auf dem Rückflug eingehen. Da blieb ich lieber als Einziger munter.
Für die eigentlichen Flugoperationen wurde kein Mensch gebraucht. Jedes Raumschiff verfügte über einen Super-Computer mit mehreren Kurs- und Optimierungsprogrammen. Keine bekannte Situation konnte von Menschen so schnell und so optimal bearbeitet werden. Theoretisch ließen sich unsere Raumschiffe natürlich auch durch Menschen steuern. Aber wozu?
Gerade weil eigentlich keine echte Verantwortung darin lag, war die Bildwand auf der Brücke eine herrliche Spielerei. Hier konnte man den Weltraumabschnitt, in den man gerade flog, überblicken. Objekte, die der Computer als potentielle Gefahr einordnete, markierte er mit einem roten Kreis. Er verstand darunter vorrangig große Objekte auf Kollisionskurs und Schwarze Löcher, überhaupt Massekonzentrationen, die das Raumschiff voraussichtlich aufsaugen würden, und andere Erscheinungen, die eher gefährlich als interessant wirkten. Griff kein Mensch ein, umflog er diese Räume selbständig in großem Bogen. Um Erscheinungen, die irgendetwas enthielten, was unbekannt war und deshalb erforschenswert schien, ohne das bereits eine Katastrophe für das Raumschiff zu erwarten war, setzte er gelbe Kreise. Die Daten über solche Kreise ließen sich gesondert abrufen. Wenn er keine Anzeichen fand, einen grünen Kreis zu setzen, steuerte der Computer das Raumschiff in die Nähe eines solchen gelben. Der grüne Kreis hätte für eine Region gestanden, in der etwas auf einen wahrscheinlich lebensfreundlichem Himmelskörper hindeutete. Ich war nicht überrascht, dass während der ersten beiden Jahre nicht ein einziger grüner Kreis auftauchte.
Irgendwann erlahmte mein Interesse an den vielen gelben Kreisen. Vielleicht war das der Grund, dass ich leichtsinnig wurde wie ein verspielter Junge. In einem Sektor, der nicht unmittelbar auf unserem Standardkurs lag, begann nämlich die Markierung zu flackern. Offenbar konnte der Computer sich nicht entscheiden, ob er die Erscheinung rot, als zu umgehende Gefahr, oder gelb als potentiell interessantes Untersuchungsobjekt klassifizieren sollte. Logischerweise rief ich alles ab, was darüber zu finden war.
Mir fiel eigentlich nur ein Begriff ein: Das war eine Anomalie. Am ehesten ähnelte sie den theoretisch vorhergesagten Wurmlöchern. Der Rechner bestätigte in entsprechenden Abständen die nötigen Massekonzentrationen. Nur so zum Vergleich: Die Wirkung von Magnetfeldern haben wir uns ja in unserer Schule angesehen. Auch große Massen haben Anziehungskräfte, nur dass die Felder anders aussehen. Man sieht sie nicht, aber man spürt sie. Die gefährlichste Kraft ist sicher jene der schwarzen Löcher, die selbst Licht in sich aufsaugen. Man nahm an, dass sich durch die gewaltigen Anziehungskräfte der Raum als solcher bewegt, sich krümmt. Was aber passiert, wenn sich Objekte gegenseitig so beeinflussen, dass sie nicht ineinander stürzen können, sondern sich ihre Raumkrümmungen überlagern? Guck ruhig ungläubig! Es wurde die Möglichkeit von Raumverdrehungen, -strudeln usw. vorausgesagt. Aber kein Raumfahrer hatte je so etwas tatsächlich beobachtet.
Das wäre nun eindeutig der Zeitpunkt gewesen, jemanden zu wecken, der sich in Astrophysik auskannte. Eigentlich verstand ich von Wurmlöchern kaum mehr als du. Ich hatte gerade einmal den Begriff gehört. Aber Wissen, wie ich bevorstehende Computerabfragen bearbeiten oder gar ermittelte Werte hätte bewerten sollen, besaß ich nicht. Und ich wusste, dass zwei Experten in Astrophysik in der Mannschaft hatte. Mit ihnen hätte ich wohl eine Strategie erarbeiten können, abwägen, wie eine Annäherung mit unserem Forschungsauftrag vereinbar war und vieles mehr. Ich aber dachte nur an das Spektakuläre der denkbaren Entdeckung und dass ich entschieden zu weit von dem Objekt entfernt war für vernünftige Schlussfolgerungen. Also für den Fall, dass sich die Vermutung als Irrtum herausstellte, wäre ich vielleicht mit alternden Gefährten gestraft beziehungsweise die mit mir – also genau das, was ich vor dem Rückflug unbedingt hatte vermeiden wollen. So korrigierte ich den Kurs und manipulierte die Kriterien für die Rotmarkierung der Region. Weder wollte ich laufend vor dieser Gefahr gewarnt werden noch sollte der Computer eigenständig einen Ausweichkurs errechnen und einprogrammieren. Du musst dir vorstellen, wir flogen wesentlich langsamer als das Licht. Einen Monat lang näherte ich mich so dem Objekt, ohne dass etwas Besonderes passiert wäre. Dann meldete mir der Rechner, es gäbe eine Abweichung zwischen dem Ort im Raum, den er relativ ermittelt hatte - also wenn du sagst, du bist drei Fuß weit rechts neben dem Busch da und vier halb links neben dem da - und dem Punkt im Weltraum, den das Raumschiff entsprechend berechnetem Kurs und Geschwindigkeit hätte erreicht haben müssen. In geringem Umfang nehme auch die Geschwindigkeit zu. Außer dem nicht definierten Objekt sei keine andere Ursache dafür zu erkennen. Er habe schon automatisch einen Selbstcheck durchgeführt und keine Instrumentenfehler feststellen können.
Nun wurde mir die Sache doch etwas heiß. Zwar hatte ich keine Daten ermittelt, die Aufsehen erregend neu gewesen wären. Es bestand also kein Grund zum Umkehren. Aber nun wollte ich doch lieber jemand befragen, der die Situation besser bewerten konnte als ich oder der Computer. Ich aktivierte in aller Ruhe die Wecksequenzen bei Professor Hun Njaou und zwei anderen und wartete. Wichtiges habe ich in der Zeit bestimmt nicht gemacht. Daran könnte ich mich erinnern, so oft, wie mich die die dann folgenden Bilder in spätere Albträume verfolgt haben. Auf jeden Fall sah ich mir die ausgedruckte Selbstdiagnose des Computers an, als eine Erschütterung durch das Schiff ging. Ich wurde nach hinten geschleudert. Was passiert war, warum es der Computer nicht vorhergesehen und gegengesteuert hatte und für wie lange ich das Bewusstsein verlor, werde ich wohl nie erfahren. Ich weiß nur, dass ich wahrscheinlich von dem Flackerlicht auf der Brücke geweckt wurde. Mir blieb aber keine Zeit, mir den Brummschädel zu halten oder mich zu bedauern. Kaum hatte ich nämlich die Augen geöffnet, verlosch das Licht und in meinen Ohren stießen Geräusche zusammen wie Explosionen. Sie kamen von überall her, am wahrscheinlichsten aus dem Hauptcomputer. Dann hatte ich den Eindruck, mitten in einem Regenbogen zu baden. Es war Licht im Raum, aber in sein Spektrum zerlegt und mit einem Rotschimmer. Mir ging ein perverser Gedanke durch den Kopf: Entweder wurde ich gerade verrückt oder wir überholten das Licht in der Kabine, was unmöglich war, weshalb nur das Verrücktwerden übrig blieb.
Entschuldige, danach fehlt mir wieder ein Stück Film. Glaube ich zumindest. Ich nehme einfach an, dass ich die Besinnung verlor. Vielleicht nur einen winzigen Moment, vielleicht viele Stunden. Soweit ich es verstanden hatte – und ich habe nachher im Computerarchiv nichts wesentlich Anderes gefunden – hätte die Geschwindigkeit mit der weiteren Annäherung an das Objekt überproportional ansteigen müssen. Da hätte auch die Sogwirkung größer werden müssen. Das hieß, dass bei der anfänglichen Entfernung allmählich die Wirkung eines Sogs zu spüren sein müssen, ich hätte gegensteuern können oder absichtlich ins Zentrum des Strudels hineinsteuern können.Ich hätte - entschuldige, aber auch heute stehen lauter Hättes und Vielleichts und Es-könnte-Seins über meinen Erinnerungen – also ich hätte erst am äußersten Rand des Sogs sein können. Woher sollten da ungewöhnliche Lichtbrechungen herkommen? Eigentlich gab es nur eine schreckliche Erklärung: Bei dem Verändern von Warnkoeffizienten musste ich auch unbeabsichtigt Anzeigen manipuliert haben. Ich weiß es nicht!
Als ich mich endlich wieder konzentrieren konnte, hüllte mich immer noch totale Finsternis ein. Stille. Nicht ein Kontrolllämpchen, kein Summen, Brummen, nichts. Ich konnte meine Situation zwar nicht deuten, aber eines schien klar: Der Hauptcomputer war ausgefallen. Wahrscheinlich konnte ich das Lebenserhaltungssystem also auch vergessen. Ich musste damit rechnen, dass ich allmählich krepieren würde. Vielleicht verdursten. Ich hätte eine Überschlagsrechnung anstellen können, wie lange der Sauerstoff im Raum für mich reichen würde. Vielleicht erlebte ich bald, wie ich bisher wahrscheinlich Unsterblicher starb, einfach, weil natürlich auch die Nanniten für ihre Tätigkeit Energie brauchten. Dass es eigentlich ein Programm gab, das sich automatisch dadurch aktivierte, dass bestimmte lebenswichtige Systeme nicht arbeiteten, war mir so was von fern, viele Lichtjahre weit weg war das.
Jetzt, hier, aus sicherer Entfernung, kann ich selbst gut spekulieren und mich für eigene Fehler aburteilen. Eigentlich weiß ich aber nicht einmal genau, wie lange ich damals gegrübelt habe. Ich glaube sogar, das war nicht lange. Dann siegte der Gedanke, diese Situation unbedingt zu verändern. Jede andere Lage schien mir besser als dieses Warten auf das Ende. Vielleicht gab es eine Chance – egal welche – zum Überleben. Und wenn nicht – ich bin mir fast sicher, dass ich damals nicht an meine Rettung glaubte - dann sollte mein Tod wenigstens schnell gehen – und irgendwie in Action.
Aber wie orientiert man sich in der Finsternis, noch dazu, wenn man nicht einmal weiß, in welche Richtung man liegt? Wo vorn ist, rechts, links, ja, nicht einmal wo oben oder unten? Lach nicht! Im Weltall herrscht normalerweise Schwerelosigkeit und es gehörte zu den tollsten Errungenschaften des modernen Raumflugs, dass man dies über künstlich geschaffene Gravitation nicht merkte. Aber auch das Schwerkraftsystem war ausgefallen. Ich schwebte irgendwie und ahnte nur, dass jede Kraft einen Rückstoß bis zur Gegenseite im Raum erzeugen würde. Also suchte ich als erstes immer etwas zum Festkrallen.
Ich will dich nicht langweilen mit der Beschreibung meiner Fingerspiele, mit meiner Enttäuschung, als ich endlich eine Konsole mit Tasten fand und keine davon reagierte. Absurd, es überhaupt zu erwarten. Ich weiß.
Dann stand ich vor der Tür zum Hauptgang. Aber ist ein Stück Wand, das sich nicht öffnen lässt, überhaupt eine Tür? Eigentlich wohl genauso wenig wie man von mir sagen konnte, ich hätte gestanden.
Plötzlich erinnerte ich mich an ein Schaltschema, das ich mir mal zu Übungszwecken eingeprägt hatte. Darin gab es eine elektronische Sperre. Wenn die zerstört wäre, könnte man die Tür wie eine gewöhnliche Schiebetür benutzen. Im Prinzip wusste ich die Stelle. Im Prinzip konnten gerichtete Photonen das Zerstörungswerk leicht vollbringen. Vor mir stand nur das kleine Problem, dass ich ja absolut nichts sah. Mein Plus: Den Phot hatte ich bereits in der Hand.
Ich könnte stundenlang diese grauenvollen Versuche beschreiben. Ich stelle lieber einfach nur fest, ich hatte bestimmt viel Zeit verbraucht, war glücklich als sich mir ein schwach beleuchteter Gang zeigte ... und sackte erschöpft zusammen. Richtiger: Ich schwebte in vielleicht einem Meter Höhe frei in der Horizontalen.
Rotes Flackern. Langsam wurde mir bewusst, was da leuchtete. Es war ein autonomes Alarmsystem. Mir schoss es durch den Kopf, wie gut es doch war, dass nicht ununterbrochen eine Sirene jaulte. Aber dieses System sprang nur bei Totalausfall aller steuerbaren Systeme an. Ich konnte zwar nun sicher sein, dass ich nicht ersticken würde, aber der Tod war nur eine Frage der Zeit.
Da kam mir der verrückteste Einfall meines Lebens. Natürlich wurden alle Funktionen aller Systeme im gesamten Schiff über den Hauptcomputer gesteuert beziehungsweise koordiniert. All das war tot und ich der Letzte, der eines der Systeme wieder zum Leben erweckt hätte. Aber die Landekapseln, die kleinen Raumgleiter, besaßen logischerweise für ihre kleinen Unternehmungen autonome Systeme. In der Standardausfertigung zwar nur als Minis, aber mindestens eine Stromversorgung und einen kleinen Replikator mussten sie haben. Und einen Generator und einen Rechner ...
Ich fuhr meine Hoffnungen wieder etwas runter. Es war nicht viel, woraus neuer Strom hätte generiert werden können, Essen und Trinken und was man alles zum Überleben brauchte. Aber ich wäre bis zur letzten Sekunde beschäftigt ...
Als ich endlich in der „Flunder“ saß, fielen mir meine Kameraden ein. Nein. Die hatten es besser als ich. Wahrscheinlich waren sie längst tot – und wenn nicht, dann bekamen sie wenigstens nichts mit vom Sterben. Nur ich ...
Ich gab mich meinen Ängsten hin. Wem sein normales Leben als endlos gegeben ist, der hat so seine Probleme damit, plötzlich sterben zu müssen und eine Zeit vor sich zu sehen, in der im Wesentlichen nichts Anderes zu tun war, als sich auf dieses Sterben einzustellen, das gleich so weit war. Auch wenn gleich vielleicht Jahre dauerte. Aber Jahre in hoffnungsloser Ödnis. Denn jetzt rächte sich mein früherer Leichtsinn. Weil ich einen so ungewöhnlichen Kurs geflogen war, war nicht damit zu rechnen, dass in den bevorstehenden Jahren irgendein Raumflugzeug mein Schiff bemerken würde, da es ja keine bewussten Signale aussandte.
Nach langem Nachdenken entschied ich mich dafür, mich zu töten. Allerdings auf eine Weise, die wenigstens eine minimale Chance der Rettung ließ: Ich musste mit der Flunder in den freien Raum. Von dort konnte ich über den internen Rechner Notrufe streuen und, wenn das erfolglos geblieben war, mit dem Phot meine Qualen beenden. Das alles erforderte einen Kampfeinsatz, denn die Schleusen nach draußen funktionierten ja nicht.
Ich beschoss also die Innenwände. Fast wäre ich dabei zerschellt. Der Sog des Vakuums schleuderte mich gegen die Wand des Schotts, bevor das Fluchtloch groß genug geworden war. Doch der Ausbruch gelang. Er kostete mich 90 Prozent der Energiereserven der Flunder. Eigentlich war mein Schicksal besiegelt.
Irgendwo im Kosmos in einer Landefähre. Nachher habe ich nur mit dem Kopf geschüttelt, wie ich so irre hatte sein können. Aber nun stell dir vor, ich schalte die beiden Displays an: Zuerst ein Schock: Ich sah einen Sternenhimmel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Und du kannst sicher sein, dass ich zumindest die Konstellation der Sterne oft genug studiert hatte. Jede Verschiebung zu den Sternbildern, wie sie von meiner Erde aus zu sehen gewesen waren, hätte ich beschreiben können. Meine Position musste sich in der Zwischenzeit um Lichtjahre verschoben haben – um viele Lichtjahre ... um sehr viele. Vielleicht war ich in einer anderen Galaxis angekommen. Als erster Mensch. Niemand würde es erfahren. Ich konnte also jeden Kurs einprogrammieren. Er konnte nur ins Unbekannte führen. Inzwischen habe ich den Gedanken mit der anderen Galaxis zwar verworfen – aber eigentlich ist es egal, ob man Milliarden Lichtjahre von der Heimat entfernt oder nur auf der Rückseite des eigenen Mondes rettungslos einsam ist.
Ich verfiel in Panik. Ich klimperte auf der Hauptkonsole herum, als wollte ich eine Klaviersonate über meinen Tod komponieren. Dabei konnte ich mit Klavieren, das sind ganz herrliche Musikinstrumente mit schwarzen und weißen Tasten, überhaupt nicht umgehen. Und da ... Ich dachte, ich hätte Halluzinationen. Das Bild erinnerte sehr an das Bild meines heimischen Sonnensystems von einer Stelle etwa zwischen dem fünften und sechsten Planeten aufgenommen. Ich wollte den Zoom regulieren, hatte das ganze Bild verschoben, sah eine kleine Explosion, dachte sofort, das war das Raumschiff und jetzt hätte ich schon tot sein können, zitterte, suchte die vorige Einstellung wiederzufinden, klickte hin und her ... Und da hatte ich sie endlich wieder gefunden: Ein Stern im Zentrum, den ich sofort Sonne nannte, und unterschiedlich hell schimmernde Punkte, die eigentlich nur Planeten sein konnten.
Du hättest dich kaputtgelacht. Ich führte laut Selbstgespräche. Ich musste einfach meine Stimme hören. Ich musste einfach hören, dass da jemand das aussprach, was ich hoffte, wirklich zu sehen. Und dann fiel mir die akustische Steuerung des Bordrechners ein.
Sofort schaltete ich sie an.
Aktiviere Fernanalyse!“
Fernanalyse aktiv.“
Kriterien für Bewohnbarkeit prüfen! Beginnend mit Nahplanet.“
„ Keine Atmosphäre, Oberflächentemperatur circa 200 Kelvin, ...“
Stop! Nächstweiter Planet!“
Atmosphäre vorhanden. Sauerstoff vorhanden. Konzentration zwischen 10 und 35 Prozent. Spektren giftiger Gase nicht erkennbar. Oberflächentemperatur zwischen 250 und 320 Kelvin. Masse- und Dichtefaktor zwischen 0,7 und 1,3 irdisch. Für weitere Strukturanalyse Entfernung zu groß.“
Direkter Landekurs!“
Plötzlich begannen zwei Warnlämpchen zu blinken.
Direkter Landekurs programmierbar, nicht realisierbar. Energiereserve ausreichend für 25 Prozent der Strecke.“
Ich stöhnte auf wie von einem Uppercut getroffen. Das konnte doch nicht wahr sein! Erst werde ich in eine unendlich weite Ferne geschleudert, steige unbegreiflicher Weise in eine Landefähre, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie sinnvoll verwenden könnte, nicht im Bereich von Tausendstel Promille angegeben werden könnte, der Fall tritt doch ein ... und nun sollte ich mit Blickkontakt zu meinem erhofften Ziel krepieren?
Ich hatte das Gefühl, mir würde die Luft knapp. Sollte meine Chance darin bestehen, dass auf meinem Zielplaneten intelligente Wesen lebten, diese mich entdeckten und retteten? Musste ich ihnen dafür Signale senden, damit die die Fähre bemerken und für ein zu rettendes Schiff intelligenter Wesen halten konnten? Das Raumschiff, also jenes, das es nicht mehr gab, hatte dafür spezielle Programme, die ununterbrochen automatisch gesendet hätten. Aber ich?
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Haaren, wie meine Urahnen gesagt hätten.
Alle möglichen Landekurse auf Realisierbarkeit mit den verfügbaren Energiereserven überprüfen!“
Der Rest war Spielerei. Der Computer berechnete einen Kurs unter Nutzung der Planeteneigenbewegung und des Gravitationsfeldes des näher liegenden Planeten. Dann machte er mir einen schmerzhaften Vorschlag: Die erforderliche Energiemenge überstieg im Standardprogramm immer noch knapp die vorhandenen Reserven. Eben jener Planet vor uns würde uns einfangen anstatt unsere Flugbahn auf den Zielplaneten hin zu lenken. Das Minimum Toleranz, um dies zu verhindern, war nur herauszuholen, wenn alle Nebenprogramme abgeschaltet würden. Ich überzeugte den Rechner davon, essen und trinken zu dürfen und die Sauerstoffzufuhr sollte erhalten bleiben. Der Preis dafür war ein absoluter Blindflug. Als ich meine Henkersmahlzeit eingenommen hatte, erlosch die Innenbeleuchtung. Ich gab mich bedingungslos in die geistigen Hände meiner Technik. Erst nach der Landung würde sich zeigen, ob ich auf jenem fremden Planeten überhaupt überleben konnte. Im Raumanzug schnallte ich mich an, lehnte ich mich zurück. Der unmittelbare Landeanflug sollte soweit möglich verkürzt werden. Der Schleudersitz bliebe dabei aktiv. Ohne weiche Landung würde mich das Programm ins Ungewisse hinausschleudern …
Ich bin noch nicht tot!“
Fast die ganze Zeit redete ich mir zu. Das heißt, ich schlief so lange ich konnte. Mir wurde schwindlig. Mehrmals. Wenigstens erinnerte ich mich an bewährte Autosuggestionstechniken. Die Eindrücke eines Landeanflugs, den man nur indirekt wahrnimmt, konnte ich trotzdem nicht ganz unterdrücken. Die Zeit zog sich hin.
Dann kamen die Druckveränderungen, dann ...
Ich war benommen, hatte aber kein Gefühl irgendeiner Katastrophe. Plötzlich blinkte die Innenbeleuchtung auf. Nur kurz. Dann wieder Dunkelheit. Dann erklärte eine Geisterstimme: „Beginne Neuaufladung!“
Der schönste Satz, seit ich von meiner Erde gestartet war. Er bedeutete, dass ich gelandet war und der Computer eine externe Energiequelle gefunden hatte. Am wahrscheinlichsten war das Licht der fremden Sonne. Nahm die Automatik den normalen Betrieb innerhalb der nächsten 10 Minuten auf, dann lag die Außentemperatur deutlich über den befürchteten 250 Kelvin.
Ich zählte achtmal bis hundert. Dann umgab mich die gewohnte technische Betriebsamkeit. Meine beiden Kameras, neu fokussiert auf Nahsicht, übertrugen Umgebungsbilder auf die zwei Monitore. Was ich da sah, ließ mich vor Hoffnung zittern. War ich im Garten Eden gelandet, dem Paradies, von dem die Menschen früher geträumt hatten, wo man ohne Mühe wunderbar leben konnte? Zwar war ich unsicher, an welche Vegetationsperiode der Erdentwicklung mich das Bild erinnerte, aber vergnügt registrierte ich Bäume, die ein Mix aus riesigen Farnen und Kokospalmen zu sein schienen, und hin und wieder kamen Libellen mit Flügelspannweiten zwischen 20 und 60 Zentimetern ins Bild.
Tropisch sah das aus und ... wann kam denn endlich die chemische Analyse? Die mikrobiologische?
Diese Welt war bestimmt bewohnbar!
Ausgerechnet in dieser Situation fiel mir eine Erklärung ein, warum mich das nun verlorene Raumschiff vielleicht hierher gesteuert hatte. Ich war in der Zeit des Wurmlochkontakts – ich weiß keine andere Erklärung, als dass ich ein Wurmloch passiert hatte – nur für kurze Augenblicke munter gewesen; wie lange ich ohne Besinnung war, kann ich nur spekulieren, denn auch meine Uhr konnte unter Einwirkung der fremden Kräfte Unsinn zeigen und eine Veränderung der Zeit wegen hoher Geschwindigkeit erfasste sie sowieso nicht, also was sich da wie lange ereignet hat, überhaupt, in welche Zeit ich aus Sicht meiner Heimaterde geraten war, werde ich nie wirklich wissen – nicht einmal, wie lange welche automatischen Steuerfunktionen noch gearbeitet hatten. Es konnte ja sein, dass der Computer noch ein grünes Ziel entdeckt und anvisiert hatte und diese Richtung hatte das dann steuer- und eigenantriebslose Raumschiff beibehalten ...
Ich wusste, warum ich das gerade jetzt denken wollte: Je weniger an dem Flug zu diesem Planeten Zufall war, umso wahrscheinlicher herrschten hier für mich günstige Bedingungen.
Endlich leuchteten die letzten Anzeigen auf …
Ich sprang auf und reckte die Arme so begeistert in die Höhe, dass ich mit den Händen schmerzhaft an die Deckenverkleidung stieß. Lachte darüber.
Sauerstoffgehalt der Luft 25,9 Prozent, Lufttemperatur 299 Kelvin, also 26 Grad Celsius, Konzentration für Menschen giftiger Gase nicht relevant, virologischer und bakteriologischer Scan ohne Befund, Gravitation 0,9 G ...
Meine Augen jagten von Anzeige zu Anzeige. Dort, wo ein Wert von den normalen der Erde abwich, war er sogar günstiger für menschliches Leben als zu Hause. Meine einzige Sorge war die, dass mich das leichte Überangebot an Sauerstoff zusammen mit der etwas geringeren Schwere in Euphorie versetzen könnte. Die Sorge also, ich könnte zu übermütige Sprünge machen … So nahe am Tod vorbei geschlittert machte mich allein die Vorstellung, zu übermütig zu werden, übermütig.
Ger positive Aufschlüsse gaben die Scans nach Indizien für intelligentes Leben. Es schien sehr unwahrscheinlich. Wellen von uns bekannten Kommunikationsmitteln oder Industrien wurden nicht angezeigt. Dafür erwartete der Computer tierisches Leben mit Körpergrößen deutlich über den Erdformen.
Wunderbar! Vielleicht hätte ich in ein paar Monaten einen eigenen Riesensaurierpark!
Im Umkreis von 150 Metern erkannte der Scan allerdings kein gefährliches Lebewesen. Und er war wieder voll in Funktion – das hieß, er hätte selbst das Gift im Zahn einer sich anschleichenden Schlange angezeigt.
Ich hielt es nicht mehr aus. Raus! Jetzt nichts als raus. Auf festem Boden stehen. Einmal hüpfen. Es sah ja niemand. Niemand hätte mich auslachen können.
Was für ein Traum! So beim ersten Blick fallen einem ja nur Zufälligkeiten auf. Mein Eindruck: Welch unermessliche Fülle an unbekannten Pflanzen – und so ähnliche mochten vielleicht auf der Erde vor mehr als 65 Millionen Jahren existiert haben. Dann hatte eine Naturkatastrophe ein Großteil aller unserer Lebensformen vernichtet und Voraussetzungen geschaffen, dass sich die Säugetiere und mit ihnen dann der Mensch durchsetzen konnten. Hier wäre ich wahrscheinlich das einzige höhere Wesen überhaupt! Es sei denn, es hätten sich intelligente Urtiere entwickelt. Es gab bei uns auf der Erde einen literarischen Helden, der hatte viele Jahre allein auf einer einsamen Insel gelebt. Allerdings hatte er zum einen das Wissen seiner Zeit mitgebracht, zum anderen viele nützliche Dinge aus den Überresten seines gekenterten Schiffes gerettet. So war er über 20 Jahre gut zurecht gekommen. Wie schlecht war der im Vergleich zu mir ausgestattet gewesen! Eigentlich konnte ich mich nur über die geringe Kapazität meiner Energieversorgung und der zwei Replikatoren ärgern. Normalerweise wurden die Landegleiter ja im Raumschiff bestückt. Dort gab es natürlich moderne Energiegewinnungssysteme. Was davon in die kleinen Speicher passte, hatte ich fast restlos verbraucht. So albern das klang – mir blieben nur ein paar Fotozellen. Die ließen sich leicht replizieren. Solange es Licht gab, waren das wahre Meisterwerke der Technik. Wenn ich nichts zu leisten gehabt hätte, hätte ich sogar die Kristalle wieder aufladen können. Aber jeder Arbeitsschritt, jeder Schuss mit den Miniphots verbrauchte nun mal Energie.
Ich wusste zwar noch nicht, was ich genau bauen wollte, aber im Gleiter wie im Gefängnis leben das kam nicht in Frage. Ich würde also arbeiten müssen. Dazu hätte ich einen leistungsstarken Replikator gebraucht.
Vom Prinzip wandeln Replikatoren die ihnen eingespeiste Energie in stoffliche Materie um. Sie brauchen dazu nur eine Matrix, die ihnen die Wunschstruktur des zu replizierenden Körpers vorgibt. Sie verfügten über einen enormen Speicher an Strukturen, die sie durch Wortkommandos abrufen konnten, aber sie besaßen auch einen intelligenten Scanner. Die beiden, die in den Landern installiert waren, waren in erster Linie dazu da, Energie in Mahlzeiten zu verwandeln und eben fremde Körper zu scannen und als Matrix für spätere Untersuchungen aufzubewahren. Dafür war ihre Größe gut – man konnte sie leicht bei einer Expedition mitnehmen. Auch kleine Bauteile, Miniphots, Werkzeuge und so hatten in der Ausgabeeinheit Platz. Aber bei Teilen, die länger oder höher als 50 Zentimeter war, endete die Kunst der Geräte. Und sie verbrauchten natürlich selbst viel Energie.
Und noch ein bitterer Tropfen mischte sich in meine erste Begeisterung. Ich weiß nicht, ob die Landung automatisch optimiert worden war. Eigentlich sollte ja jeder Luxus ausgeschaltet gewesen sein. Aber als Landeplatz war mein aktueller Standort ideal. Etwa 500 Meter rundum nichts als Flechten auf steiniger Ebene. Gut zum Landen eben, gut für den Computer für Nahanalysen jeder Gefahr – aber für jedes Wesen, das sich selbst verbergen konnte, auch ideal, mich zu beobachten, ohne bemerkt zu werden. Und mich auf der freien Fläche am Weiterleben zu hindern. Sobald die Kristalle wieder etwas Energie hätten, würde ich mir ein besseres Versteck suchen müssen und bei der Gelegenheit ein Stück meines neuen Planeten besichtigen.
Ich traute dem Frieden eben doch nicht ganz. Ich hatte mich viel mit Geschichte beschäftigt. Dabei begriff ich vor allem eines: Unsere Vorfahren hatten voll Misstrauen gegenüber Fremdem gesteckt und nach fremdem Besitz gegiert. In meiner Position musste ich ein einfaches Ziel für Waffen verschiedenster Perioden sein. Und noch etwas schien mir wichtig: sollte ich einmal vor irgendwelchen Verfolgern fliehen müssen, dann wäre ich ausgerechnet auf dem letzten Stückchen Weg in die Geborgenheit des Gleiters frei deren Waffen ausgesetzt.
Ich zog mich also recht schnell wieder in meine sichere Kabine zurück. Dort schalt ich mich einen Schrumpfkopf. Seit vielen Generationen gab es keine Kämpfe mehr zwischen Menschen. Wir hatten auch unsere Schulungen gehabt, wie wir uns fremden Intelligenzen gegenüber verhalten sollten: Immer die eigene Friedfertigkeit offenlegen. So wie man den Anderen gegenübertritt, werden die es einem gegenüber auch tun. Blieb immer nur die Frage, ob die Fremden diese Regeln auch kannten. Vor allem aber belegte das Ergebnis der ersten Scans, dass keine Spuren höherer Intelligenz vorhanden waren. Aber es gab ja die verschiedensten Formen niederer tierischer Intelligenz, die auch die Menschheit noch so lange beherrscht hatte. Raubtiere, die arbeiten konnten.
Der Versuchung, mir zwei Reservephots zu replizieren, konnte ich nicht widerstehen. Sollte ich unterwegs sein, brauchte ich nicht gleich zu bedenken, wann die Energiereserven aufgebraucht wären. Ich aß genussvoll, las und legte mich schlafen.
Die Dauer eines Tages betrug hier 21,2 irdische Stunden. Ich überlegte, ob ich in absehbarer Zeit meine Uhr umprogrammieren sollte. Es wäre doch idiotisch verwirrend, wenn von Tag zu Tag die Sonne zu total verschiedenen Uhrzeiten auf- und unterginge. Für einen Menschen meiner Welt hieße das, die Dauer einer Minute auf 21,2/24*60 Sekunden zu verkürzen. Irgendwann würde ich dann den Tag genauso empfinden wie auf meiner Urerde – Tag und Nacht waren ja schon durch den Flug durchs All irgendwie ausgedachte Größen geworden.
Mit so viel Unsinn-Theorie fiel ich in einen traumgeschüttelten langen Schlaf. Jedenfalls wurde ich munter, da war es hell, als wäre es nie dunkel gewesen. Nur der veränderte Stand der hiesigen Sonne überzeugte mich, dass schon ein neuer Tag angebrochen war … oder vielleicht der übernächste. Aber war das wichtig?
Die Anzeige meldete einen Ladezustand von 18 Prozent Energiereserven. Für einen kleinen Rundflug würde das reichen. Und ich war zu begierig darauf, endlich das nachzuholen, was mir durch die Blindfluglandung entgangen war. Wie sah das Land aus, in das mich die Ereignisse verbannt hatten?
Die Flunder gehört zu den Annehmlichkeiten unserer modernen Technik. Sie besitzt die Vorzüge von Helis, wie du sie erlebt hast, also sie können sozusagen in der Luft stehen, gerade oder schräg aufsteigen, schnell und langsam fliegen, aber sie sind vergleichsweise leise und können sogar die Anziehung eines Planeten überwinden. Allerdings ist sie so kompliziert, dass ich keine neue hätte bauen können – zumindest mit einem so kleinen Replikator. Es gibt verschiedene Steuerungsmöglichkeiten. Normalerweise gibt man die Koordinaten seines Ziels ein und der Gleiter sucht sich seine optimale Flugstrecke und -höhe selbst. Man kann einen Kurs programmieren. Ich kann das übrigens nicht. Man kann ihn akustisch steuern – am meisten Vergnügen aber macht die Kugel. Stell dir vor, du hältst eine Kugel in der Hand, hebst du sie ein Stück, steigt der Gleiter, bewegst du sie in eine Richtung, fliegt der Gleiter in eben diese Richtung, drückst du stark, fliegt er schnell, schwach drücken heißt langsam fliegen usw. Lässt du die Kugel los, übernimmt sofort die Automatik den Weiterflug zum anfangs anzugebenden Ziel, wenn du nicht bereits gelandet bist. Alles innerhalb eines relativen Quaders, also die Kugel hat einen Drall, in der Mitte dieses Quaders zu schweben. Ob eine solche Steuerung sinnvoll ist? Keine Ahnung. Aber sie kommt dem Spieltrieb so manches jungen Piloten entgegen. Und mein Spieltrieb war gerade sehr groß.
Ich justierte die beiden Kameras so, dass sie wie Augen nach vorn unten funktionierten, und startete.
Alle Aufzeichnungs- und Analysegeräte waren aktiviert. Normalerweise können in einem Flunder-Gleiter neben dem Piloten vier Besatzungsmitglieder arbeiten. Die hätten also an ihren Terminals gesessen und die eingehenden Daten zeitnah bewertet. Ich hätte natürlich den Autopiloten aktivieren und zwischen den Systemplätzen hin und her wandern können, aber ich wünschte mir das Gefühl, so zu fliegen, als wäre der Gleiter eine Verlängerung meiner Arme und Beine, eine Verbesserung meiner Augen, als wäre ich ein Supervogel auf diesem Ur-Planeten. Und die Kapazität der Datenspeicher war gewaltig. Wenn es nach denen gegangen wäre, hätte ich etwa 30 Tage ununterbrochen fliegen können – und mir nachher anschauen, was für Biowerte am Morgen des 16. Tages in einem bestimmten Planquadrat festgestellt wurden ... als Wahrscheinlichkeitszahlen und als Film mit Bild und Ton. Mir konnte nichts entgehen.
Ich war so übermütig; ich hätte am liebsten die Kugel ein paar Mal gedreht. Aber das hätte mir den Blick auf diesen Wald unter mir verdorben. Ich flog ungefähr 200 Meter tief. So konnte ich in diesem Baumteppich die einzelnen Farnwipfel erkennen. Die ganze Ebene vor mir war dicht mit diesen Kokosfarnen bewachsen. Gelegentlich tauchten Vögel über den Wipfeln auf. Andere Tiere waren mit bloßem Auge nicht auszumachen. Ich freute mich ehrlich darauf, diesen Flug später am Bioscan zu wiederholen. Ich hatte einmal einen solchen Scan eines Flugs über das Amazonasreservat gesehen. Der Film zeigte sogar einzelne Affen, die von Baum zu Baum hangelten. Also es gibt auf der Erde Gebiete, da haben wir künstlich versucht, die ursprünglichen Lebensbedingungen zu erhalten oder weitgehend wieder herzustellen. Das brauchte man hier nicht.
Die Methode hat natürlich einen Haken: Der Computer vergleicht die Scanwerte mit bekannten Lebewesen und holographiert sie. Was würde er machen, wenn die Lebewesen ganz andere waren als auf der Erde oder überhaupt nicht als Lebewesen erkennbar?
Egal. Ich hatte mich entschieden: Ich lebte, die Bedingungen auf diesem Planeten standen einem langen weiteren Leben anscheinend nicht im Wege – es konnte also nur darum gehen, eben dieses Leben so gut zu gestalten wie möglich. Deshalb brauchte ich als erstes meinen Rückzugsplatz.
Dieser Urwald kam dafür nicht in Frage. Aber am Horizont waren Bergspitzen zu erahnen. Dort wäre bestimmt ein Platz, von dem aus man eine große Landfläche überblickte und der nicht für beliebige Großlebewesen leichter erreichbar war als für mich.
Der ganze Flug war bisher ein Traum. Eine Idylle, in der noch nichts Störendes aufgetaucht war.
Als ich mir das gerade vergegenwärtigte, passierte es. Je näher ich jenem Gebirge kam – ich hatte die Bergspitze für mich Kilimandscharo genannt nach einem Berg unseres wärmsten Kontinents, dessen Spitze mit Schnee bedeckt war – umso mehr lichtete sich der Wald. Ich neigte immer mehr dazu, in Begriffen meiner früheren Erde zu denken. Das sich nun unter mir ausbreitende Land nannte ich Savanne. Und wie ich so Ausschau hielt nach etwas Löwenartigem oder hüpfenden Gnus, entdecke ich diese Herde. Die Bäume waren etwa 10 Meter hoch, aber die Wesen, die die „Kokosnüsse“ von den Wipfeln abrissen, brauchten ihre Hälse nicht einmal auszustrecken! Du verstehst: Ich hatte die erste Knala-Herde entdeckt, Tiere, die zehnmal größer waren als alle Landtiere, denen ich bisher begegnet war. Begeistert bestaunte ich sie von oben.
Ich flog nahe heran. Es waren etwa 20 Tiere. Manche bewegten den Kopf ein wenig, als sie mich bemerkten, aber dann fraßen sie ruhig weiter. Raubvögel kannten sie offenbar nicht. Ihr Kopf war für mich verblüffend klein. Vergnügt beobachtete ich, wie langsam eine Zunge herauskam, doppelt so lang wie der ganze Kopf, sich um die Früchte wand und die in den eigentlich kleinen Rachen hineinzog. Diese Wesen waren nicht gefährlich, außer, ich geriet unter ihre Füße. Diese Wesen fielen aber auch als Jagdbeute aus. Sollte deren Fleisch wohlschmeckend sein, dann hätte ein einziges Tier mich mehr als ein Jahr versorgt - nur das meiste wäre eben vorher vergammelt. Die Logik warnte mich: Wenn sich diese Riesen hier natürlich entwickelt hatten, dann hatten sich auch Wesen entwickelt, denen solche Fleischberge Beute waren. Bei uns auf der Erde hatte es den sogenannten Tyrannosaurus Rex gegeben. Und für den wäre ich eine Zahnfüllung.
Beim Weiterflug wunderte ich mich über etwas Anderes. Ich war zwar schon mehr als vier Stunden unterwegs, hatte aber noch kein Gewässer entdeckt. Das konnte nur ein Zufall sein. Ein einfacher sogar. Ich war ja in Richtung Gebirge geflogen, somit parallel zu denkbaren Flüssen. Ich entschied mich also dafür, um 90 Grad zu wenden, solange zu fliegen, bis ich wirklich auf einen Fluss stieß, und dann weiter in Richtung Quelle. Wenn ich mir keine Probleme bereiten wollte, dann sollte ich in zwei Stunden den Ausflug beenden. Die Energieanzeige war auf elf Prozent gefallen.
Ich zoomte mich etwas dem Horizont entgegen. Wahrscheinlich bedeutete das etwas dichter stehende Grün ein Flussufer. Ich war also auf dem richtigen Weg. Ich wollte schon maximal beschleunigen, da stutzte ich. Etwas an den Pflanzen kam mir seltsam vor. Sie wuchsen anders als die, denen ich bisher begegnet war. Sie ... Sie wuchsen nicht natürlich! Das waren gar keine wachsenden Pflanzen, das waren Hütten aus Pflanzen. Hütten?
Hütten! Was ich da heranzoomte, war eine Siedlung! Wie immer die aussehen mochten, das mussten intelligente Wesen sein, die da am Werk gewesen waren. Nicht gerade auf dem Niveau wissenschaftlichen Fortschritts, aber die anfängliche Prognose meiner Technik war hinfällig ...
Die Fremden durften mich nicht sehen. Zwar war unwahrscheinlich, dass die über einen Zoom verfügten, aber ich flog frei in der Luft, leise zwar, aber nicht geräuschlos, hatte zwar selbst kein Exemplar von denen entdeckt, aber ich wusste ja nichts über deren Sehfähigkeiten. Spontan entschied ich abzudrehen. Kein Risiko eingehen. Nun also würde ich mein Versteck wirklich wegen einer fremden Intelligenz brauchen.
Ich steuerte direkt das Gebirge an. Ich hatte Zeit, mein ganzes Leben lang. Nur keinen Fehler machen. Wie schnell ist man von einem mit unbekanntem Gift getränkten Pfeil getroffen. Oder ...
Nein, nicht darüber nachdenken.
Hätte ich doch einen Kurs, ein Ziel einprogrammieren können, um mich ganz auf die Bioscans zu konzentrieren! Auf meinem jetzigen Fluchtkurs wurde der Bewuchs wieder dichter und wilder. Ich war überhaupt nicht sicher, ob das gut für mich war, aber je dichter die Pflanzen standen, umso näher nebeneinander konnte ich mit solchen Wesen existieren, ohne dass wir einander bemerken mussten. Und ich hatte einen Vorteil: Ich konnte mir Trinkwasser replizieren, brauchte nicht die Nähe eines Trinkwassergewässers. Ich brauchte nur einen Landeplatz.
Das Vergnügen am Fliegen war mir erst einmal vergangen. Mich interessierte nur noch eine Lichtung oder etwas Ähnliches.
Ich fand eine. Und das Glück meinte es gut mit mir. So intensiv ich auch suchte – es gab keine Anzeichen für Wege, die dorthin führten. Keine Ahnung, wodurch die Lichtung entstanden war, sie reichte für mich. Vielleicht 80 Meter lang und 30 Meter breit. Also viel ungünstiger als mein erster Landeplatz, aber nun war Anderes wichtiger. Ich musste herausbekommen, welche Wesen ich da entdeckt hatte. Ihre Siedlung war etwa 20 Kilometer entfernt, eine Strecke, die normalerweise ausreichen musste, dass wir uns ohne Absicht nie begegnet wären. Aber es war natürlich unwahrscheinlich, dass diese Siedlung, wenn es denn eine war, die einzige auf diesem Planeten sein sollte, und zum anderen wollte ich wieder die Initiative übernehmen. Mit einem Blick auf die Energieanzeige lächelte ich: Selbst wenn ich schlief, arbeitete die Zeit für mich. Da wurde mein Energiespeicher aufgeladen. Was wollte ich mehr?


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