Samstag, 1. Januar 2011

Zwei Jungen, die beinahe die Welt retteten



Er schien das Ehrwürdige dieser Burg, auf der sie ihren Abschied begehen durften, überhaupt nicht wahrzunehmen. Im Gegenteil. Wie ein großer freier Redner hüpfte er auf die breite steinerne Außenmauer und sah, anstatt den möglichen Sturz in die Tiefe zu bedenken, zum blassblauen Himmel hin­auf. „Bestimmt schauen sie uns uns jetzt zu. Sie sind schon da. Glaub mir doch!“
„Klar, vor allem dir. Also wenn die nichts Besseres zu tun haben, dann tun sie mir Leid!“
Die beiden Jungen hätten verschiedener nicht sein können. Der eine trug eine Brille und hatte sein Gesicht glatt ra­siert. Die Haare auf dem Kopf hatte er so kurz schneiden lassen, dass sie als Borsten wie eine Vergrößerung des kan­tigen, aber gnadenlos ordentlichen Gesichts wirkten. Egal, ob man ihn von weitem oder von sehr nahem betrachtete, man war sich sicher, der Junge hatte nur sehr gute Noten in der Schule und berauschenden Mitteln stand er bestimmt ableh­nend gegenüber. Der Kopf des anderen schien etwas zu groß geraten und irgendwie war alles nicht ganz so, wie es wohl hätte sein sollen. Eine Kugel schien vor ihrer Einweihung kurz von drei Seiten mit einem flachen Gegenstand aus ihrer eindeutigen Form gebracht worden zu sein. Überall war sie mit mal gelockten, mal mit gekräuselten Haaren bewachsen, die nirgendwo den Charakter einer Frisur, eines Bartes oder von etwas Anderem annehmen wollten, was Namen verdient hät­te. Und es deutete alles darauf hin, dass der Junge es ir­gendwann aufgegeben hatte, sich zu frisieren. Von diesem Irgendwann an hatte er sich gebilligt, wie er war. Auch dass er von seinen Mitschülern nicht akzeptiert wurde, hatte er in Kauf genommen. Er hatte in all den elf Schul­jahren immer gerade so das Klassenziel erreicht. Kein Leh­rer hatte ihn beachtet, denn er hatte auch nicht gestört. Er war nur Fleisch gewordener stiller Protest oder der Satz „Lasst mich doch endlich in Ruhe“. Warum hätte man ihn län­ger in der Schule behalten sollen? Irgendwie hatten ihm wohl alle Lehrer bei den Abschlussprüfungen unbewusst Suggestivfragen gestellt, die er störrisch nicht richtig, aber auch nicht falsch beantwortet hatte. Musste man sich das noch ein zweites Mal antun? Er hatte all die Jahre so etwas wie einen vierten Bodyguard zu einem der Alphamänn­chen in der Klasse abgegeben. Doch die Burg bot nur Zwei- oder Vierbettzimmer. Als fünfter hatte er nirgendwo hinein gepasst - so wie der Streber, der in Gedanken schon in jene Schule ging, die seines Vaters Zukunftsvisionen ihm zuge­dacht hatten.

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Als am ersten Abend jener Streber seine Konzentrationsübung gemacht hatte, an den mild blauen Nachthimmel zu schauen und an Nichts zu denken, also eigentlich daran zu denken, dass er an nichts denken wollte, da waren unerwartete Worte in seine ungeschützten Gedanken gedrungen: „Irgendwo da draußen gibt’s noch mehr solche wie uns.“
Jeder andere Schüler hätte sicher einen Witz draus gemacht. So in der Art „Noch so einer wie du? Kann ich mir nicht vorstellen.“ Oder er hätte seinen Unmut gezeigt wegen der Störung. Doch die Überraschung war zu groß. Der da gedacht hatte, nur er selbst könnte hoch fliegende Gedanken ent­wickeln, schluckte erst einmal. Sein Schweigen klang wie eine laute Zustimmung.
„Was mögen die für Technik haben? Nehmen wir an, sie flie­gen von einem Planetensystem zum anderen. Dann müssten sie ja technisch weiter sein als wir.“
Der Sprecher mit dem Kräuselkopf hieß Skworizschesko´opoli, was soviel hieß wie Wolfgang, der jüngste, wenn man den Skwori ihrer Jagd in Rudeln wegen zubilligte, dass sie au­ßerhalb des Planeten vielleicht Wölfe geheißen hätten. Er hatte instinktiv seine Hand auf jene Stelle seines Kleides gelegt, unter der sich die – natürlich in seinem Alter noch leere – Bauchtasche befand. Vielleicht, weil er auf seine dort besonders muskulösen Sprungläufe so stolz war, hüpfte er jeweils drei Tatzen vor und zurück, rauf auf die Mauer und wieder runter. Die anderen ehemaligen Mitschüler feier­ten in den großen Zimmern die Erfolge ihres zweiten Ferien­tages. Und es waren ja die letzten echten Ferien ihres Le­bens und das musste ja gefeiert werden.
Wolfgang und Bernhard – eine sicher erlaubte freie Überset­zung für Oschtschotkich, denn wenn man bei uns seine Kose­form Otscho nutzte, dann würden Kenner ja eher an eine Tangofigur als an einen Jungen aus einer fremden Galaxie denken – also die beiden schwiegen einen Moment tiefsinnig nebeneinander her.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“ unterbrach Wolfgang wieder die Stille. Es lag allerdings etwas von der Sicher­heit in seiner Stimme, es konnte gar keine andere Antwort als NEIN geben, und so setzte er fort, als hätte der Andere bereits mit nein geantwortet: „Wir sind biologisch auserle­sen als die sozial höchst entwickelte Spezies im Weltraum.

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Die Lehre von Saúkastawilly ist doch überzeugend. Die Art, wie ein biologisches Wesen mit seinem Nachwuchs, Seines­gleichen und anderen Wesen in seinem Umkreis umgeht, wird durch die Funktionsweise seiner Kommunikationsorgane be­stimmt. Das verstehe ich. Auch, dass diese Organe bei uns die höchste natürliche Optimierung erfahren haben. Dass sich die Schlüpflinge von dem Moment, an dem sie sich aus der Eihülle befreit haben, bis zu dem Zeitraum, an dem sie so selbständig sein wollen wie wir, jederzeit in die Bauchtasche von Mutter oder Vater begeben können, muss ja eine enge, ganz bewusste Beziehung zu den Eltern schaffen. Was aber festigt denn den Zusammenhalt der Gruppe mehr als die in ihrem Fluchtvermögen Eingeschränkten gemeinschaft­lich zu verteidigen, den Schutzkreis zu bilden, notfalls Schlüpflinge in die Tasche zu nehmen, selbst wenn es nicht die eigenen sind? Eine solche biologische Vorgabe musste doch den Gemeinschaftssinn unserer Vorfahren besonders stark ausprägen. Und unsere Sexualität hat doch wirklich etwas einmalig Würdiges. Wir haben gelernt, dass große Tei­le der Tierwelt ihre Geschlechtsorgane in teilweiser Funk­tionsgemeinschaft mit Ausscheidungsorganen ausgebildet ha­ben! Na ih! Nur unsere Entwicklungsvorfahren prägten solch idealen Mund aus mit dem Kehlkopf zur differenzierten For­mung von Lautzeichen und die Kazikka beim Mann. Dazu solch eine lange und bewegliche Zunge, die beim Sprechen genauso nützlich ist wie beim Platzieren der Spermiten im Eileiter der Mädchen. Vorher das Protan nicht zu vergessen! Wie sollten denn anders gestaltete Körper Gefühle entwickeln? Bei denen die Eierstöcke nicht als erstes von der männli­chen Zunge mit etwas eingerieben werden, das die Eipro­duktion auslöst? Unser Lecken ist als Strategie zum Ge­schlechterkontakt unübertroffen. Wir waren von Anfang an ideal! Wie war es möglich, dass wir so degenerierten? Oder kann man unsere Gesellschaft anders als degeneriert nennen? Auch wenn wir das nicht in der Schule lernen? Die Lehrer immer noch so tun, als gäbe es nichts Besseres als uns?“
„Die leben davon.“ Die drei Worte ließen sich noch zwischen den Wortschwall schieben.

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Aber die verstärkten nur noch die Heftigkeit, mit der Wolf­gang seine Rede fortsetzte, nun fast ununterbrochen beglei­tet vom Schwenken seiner Vorderläufe. „Genau. Die leben da­von. Das ist es wohl: Dass es auf dem ganzen Planeten fast keinen Ky mehr gibt, der direkt für ein sinnvolles Produkt arbeitet. Anstatt weiter sinnvoll die Aufgaben zu teilen, haben in der Vorzeit einige vorausgedacht, was an­dere ma­chen sollten. Na gut. Die haben das gemacht und al­len zu­sammen ging es besser. Aber irgendwann bekamen sie nicht mehr, was sie gerade brauchten, sondern etwas, was immer mehr nur dazu da war, es gegen Anderes einzutauschen. Das hieß dann Geld. Und man konnte sich vorstellen, welches Produkt, aber auch welche Arbeitsleistung man dagegen ein­tauschen konnte. Und manche haben die anderen Ky so über­rumpelt, dass sie nicht nur so viel Arbeit Leistende kaufen konnten, dass ihr Geld davon immer mehr wurde, sondern sie haben mit einem Teil dieses Geldes wieder andere Ky ge­kauft, die nichts anderes taten als immer wieder neu Mittel zu ersinnen, dass es so blieb wie es war: Die einen hatten, was immer mehr wurde, die anderen arbeiten, damit die ers­ten mehr hatten. Und alle freuten sich und die, die sich nicht freuten, wurden bestraft. Oder gekauft.
Inzwischen gibt es so viele Öle für die Kazikki, dass kaum noch ein Mann weiß, wie seine Zunge von innen nass wird. Was haben wir heute? Lauter tolle Maschinen. Immer noch mehr. Nicht, dass wir uns freuen, wenn wir von unseren Liebsten Bilder machen können, nein, wir müssen das mit denselben Geräten können, mit denen wir uns gegenseitig an­rufen. Muss das sein? Vor allem: Muss das sein, wenn zu­gleich so viele Ky auf diesem Planeten verhungern? Weil sie einmal geboren wurden, um für andere zu arbeiten, aber ihre Arbeit von Maschinen gemacht wird? Zum Beispiel? Weil fast alles, was irgendwer braucht von Maschinen hergestellt wird, die nur wenigen gehören? Jeder einzelne von denen nicht etwas produzieren lässt, weil seine Produkte jemand braucht, sondern weil er wieder mehr Geld damit zusammen­raffen möchte? Außer uns selbst haben wir keinen Feind mehr, der uns Ky gefährlich werden könnte. Aber wir werden uns immer gefährlicher. Die einen lassen immer neue Maschi­nen bauen, die das Leben anderer Ky und überhaupt beenden.“
Glücklicherweise hatte Wolfgang an dieser Stelle ein Pro­blem mit dem Atmen. So konnte Bernhard endlich seine Frage loswerden, die ihn wohl schon eine Weile beschäftigt hatte: „Und wie willst du das ändern? Das ist doch der Fort­schritt!“
„Das denken wir jetzt. Weil niemand mehr den Überblick hat. Alles ist wie es ist und die, die das Geld haben, immer einen Teil davon einsetzen, dass es so bleibt, dass nur ihr Geld mehr wird. Aber es gibt doch schon Maschinen, mit de­nen man überwachen könnte, wo was am sinnvollsten auf die­sem Planeten produziert wird. Und jeder könnte sich an die Eingänge solcher Planungssysteme setzen und mitmachen, so lange wie er daran Spaß hat, für andere mit zu denken. Du, man brauchte gar kein solches Geld mehr – man könnte gleich anfangen, so viele Früchte zu produzieren, wie gebraucht werden, und dafür sorgen, dass sie dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Es werden schon mehr produziert als gebraucht würden, aber ein Teil der Ky beschäftigt sich allein damit, die ohne Geld von ihnen fern zu halten. Man braucht also nur denen, die schon so lange mit Geld, für das andere gearbeitet haben, Maschinen angeschafft haben, damit sie nachher mit nochmal Arbeit von anderen zum Schluss mehr Geld haben, zu sagen, dass niemandem etwas gehören darf, mit dem das geht. Und wer Anderes behauptet, bekommt kein Geld mehr dafür, weil denen, die sich so lange bereichert haben, dieses Geld weggenommen wurde. Und all die, die davon gelebt haben, dass alles bleibt wie es ist, bekommen nützliche Arbeiten. Felder bewässern zum Beispiel oder entwässern, wo das besser ist. Es soll ja niemand Angst haben, er wird unnütz.“
Da staunte der Streber. Er hätte sich kaum vorstellen kön­nen, dass der Wolfgang Sätze bilden konnte, in die mehr als ein Komma Platz gehabt hätte. Hier aber hatte er gerade Sätze mit vielen Kommata gebildet, ohne sich zu verhaspeln. Und erst deren Inhalt! „Was du dir für Gedanken machst! Also ich bin da bisher nicht drauf gekommen. Bloß … Das klingt so einfach … Eigentlich müsste doch überall auf un­serem Planeten Ky drauf kommen. Es gibt ja viel mehr, die nur arbeiten dürfen, wenn sie denn dürfen. Und da oben ...“ Er deutete vage in Richtung Weltall.“... haben sie wohl alle schon das Problem gelöst.“
Doch Wolfgang freute sich, endlich weiter reden zu können: „Eben das glaube ich nicht. Ich stelle mir das wie einen engen Spalt vor, durch den alle Wesen durch müssen, die so einen ähnlichen Kopf haben wie wir. Wenn nicht die, die die Verhältnisse verändern wollen und können, das in diesem kurzen Zeitraum geschafft haben, dann gibt es Verhältnisse, die alle diese Planeten zugrunde richten. Was weiß ich, was das für welche Maschinen oder so sein werden. Über uns fliegen ja schon welche, die uns überwachen und die wir ge­brauchen, um einander Nachrichten zu schicken. Bald gibt es keinen Gedanken mehr, für den man dich nicht für alle ande­ren unbemerkt bestraft. Und du arbeitest wie doof, bis es nichts Sauberes zu essen, trinken oder atmen gibt. Zuerst sterben solche wie wir … und zum Schluss die Ururenkel von denen mit Geld. Aber noch ist denen das egal.“

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Weit oben im Orbit hatte eine Sonde das Gespräch erfasst. Eine umfangreiche Matrix identifizierte es als bedenklich aufrührerisch. Der Dienst, der die aus der Masse herausge­filteten Daten einer differenzierten Bewertung unterzog, war insbesondere vom Alter der systeminkompatibel Denkenden betroffen. Das Gespräch landete als Protokoll auf Ebene 3. Man entschied sich für unmittelbares Handeln. Der, der mit Codenamen Wolfgang erfasst worden war, wurde als Geisel bei einem Banküberfall Opfer des Schusswechsels zu seiner Be­freiung. Der, der ihm so aufmerksam gelauscht hatte, machte Karriere im Management eines Großunternehmens der Datenlo­gistik. Es heißt, unter dem Einfluss von Rauschmitteln habe er seinen Kollegen gelegentlich ihre Dekadenz vorge­worfen, was ihm den Ruf als Sonderling erhielt. Seine drit­te feste Beziehung zu eine Ky führte zu mehrfach gefüllten Taschen. Von da an hörte man ihn immer öfter davon reden, dass wer es nicht geschafft habe, eben mehr hätte arbeiten sollen.
Ob an der Theorie seines beinahe Freundes etwas gewesen wahr, erfuhr er nie. Im Alter von 79 Jahren überstand er ein Asche-Syndrom in fortgeschrittenem Stadium und schied aus dem Berufsleben aus. Zwei Jahre danach verstarb er. Es vergingen noch weitere 39 Jahre, bis die Atmosphäre des Planeten einen Kipppunkt erreichte. Die allmähliche mini­male Erwärmung hatte die Verbreitung von Mikroorganismen gefördert, die lange in unbedeutendem Umfang für höhere Le­bensformen giftige Substanzen ausschütteten, bis diese nicht mehr ausgefiltert werden konnten. Danach vermehrten sie sich sprunghaft. Trotz aller Bemühungen der Ky fand man keinen Weg zur Eindämmung. Innerhalb von nur zehn Jahren waren alle höheren Lebensformen vom Planeten verschwunden. Da deren Überreste die Lebensgrundlage eines Teils dieser Mikroorganismen bildeten, verschwanden bald auch diese. Wären danach noch Ky am Leben gewesen, hätten sie festge­stellt, dass die chemische Struktur der Planetenoberfläche einschließlich der Temperatur von circa 300 Grad über Flüs­sigwasser ungewöhnlich stark an die Zustände zu Beginn der dritten Existenzmilliarde des Planeten erinnerten. Sie hät­ten angenommen, dass nach weiteren zwei Komma fünf Milliar­den Jahren der Planet wahrscheinlich wieder von höheren Le­bensformen bewohnt sein könnte. Allerdings war mit der Her­ausbildung von intelligentem Leben nicht mehr zu rechnen. Deren Entwicklung wäre in die letzte halbe Milliarde Le­bensjahre des Sternensystems gefallen, und da war von Natur aus mit immer lebensfeindlicheren Bedingungen auf dem Pla­neten zu rechnen.
Welch Glück. Es gab keinen Ky mehr, der das hätte fest­stellen können.  


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